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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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in Vollwertige verwandeln kann durch Änderung der Lsbensumstände, so brauche
ich sie natürlich nicht von der Fortpflanzung lauszuschließen. Auffallend ist mir,
daß die Lamarckisten sich nicht sagen, daß, wenn Übung eines Organs die ent¬
sprechende Erbanlage verbessert, selbst bei nur ganz minimalen Fortschritten von
Geschlecht zu Geschlecht, die Menschheit eine bereits viel höhere Stufe der Voll¬
kommenheit erreicht haben müßte, als sie heute tatsächlich einnimmt. Gewiß,
wir haben in sittlicher Hinsicht große Fortschritte im Laufe der Jahrtausende
gemacht, insonderheit hat die Nächstenliebe unter der Herrschaft des Christen¬
tums eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren: die Kinder werden aber
heute noch mit mehr oder minder ausgesprochener Ichsucht gehöre" und müssen
immer wieder erst zum Altruismus erzogen werden. Überhaupt wird kaum ein
Pädagoge die Behauptung wagen, daß die Erziehung der Jugend, wenn wir von
den technischen Hilfsmitteln absehen, heute leichter ist, als sie vermutlich vor
etlichen tausend Jahren war, was bei der starken Pflege, welche die sozialen
Instinkte mit fortschreitender Kultur erfahren haben, doch der Fall sein müßte,
wenn der Lamarckismus zu Recht bestände. Unsere Fortschritte sind bedingt
durch Steigerung der überlieferungswerte, nicht der Erbwerte.

Die den Lamarckismus bestreitende Weismannsche Lehre von der "Konti¬
nuität des K.imwasmciS", d. t>, der Erbmasse, und dessen Unbel'influßömkeit,
durch die Umwelt hat nun durch die neuere Zell- und Erblichkeitsforschung eine
starke Stütze erhalten. Semons Versuch, zwischen jener ersteren Lehre und dem
Lamarckismus eine Brücke zu schlagen, war geistvoll, ist aber durchaus mißglückt.
Die ausgezeichnete Darstellung der von: Augustinerpater Gregor Mendel in den
sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefundenen, aber unbeachtet ge¬
bliebenen und 1901 von Eorreus, Tschermak und de Nries neu entdeckten Ver-
erbungsregeln -- (oder man darf heute dreist sagen Gesetzen) --bildet eine wert¬
volle, dringlich gewordene Bereicherung der 3. Auflage des Schallmayerschen
Buches. Wir dürfen heute sagen, daß alle Vererbung zweieltriger Wesen ein
"Wendeln" ist, d. h. nach den genannten Gesetzen sür Kreuzungen geschieht.
Die Vererbung erfolgt mit zahlenmäßiger Gesetzmäßigkeit, so daß bei weniger zu-
sammengesetzten Lebewesen, z. B. etlichen Pflanzen, der erfahrene Forscher vor¬
hersagen kann, in welchem Zahlenverhältnis die Kreuzungsprodukte Blätter und
Blüten von dieser oder jener Gestalt bezw. dieser oder jener Farbe haben werden.
Beim Menschen liegen die Verhältnisse natürlich viel verwickelter. Wegen der
Fülle der Erbeinheiten, die eine in die Millionen gehende verschiedene Zu-
sammenfügunq gestatten und sich zum Teil gegenseitig bedingen, zumal strenge
Inzucht ausgeschlossen ist, eine Voraussage unmöglich. Menschen nach Mendel-
schen Regeln züchten, das können wir nicht. Trotzdem ist deren Entdeckung für
die praktische Rassenhygiene von großem Wert. Indem diese Regeln das alt-
Wort bestätigen "An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", lehren sie die hohe
Bedeutung 'der von Schallmaher schon 1891 geforderten erbbiographischen Per¬
sonalbogen für die Eugenik. Diese Bogen, in welche für jede Person von ihrer
Geburt an gewisse zur Beurteilung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen Erb¬
anlagen dienliche Beobachtungen durch zuständige Personen eingetragen werden
sollen, würden allmählich zu Familienstammbüchern anwachsen, "die nicht nur
über pathologische, sondern auch über andere bemerkenswerte Erbanlagen ver
Borfnhren und ihrer Seitenvevwandten Aufschluß gäben". Damit würde dem
heute noch in weitem Umfang zu Recht bestehenden Einwand, wir können keine
Eheverbote erlassen, denn wir sind außerstande, die Erbanlagen eines Menschen
zu erkennen, der Boden entzogen zu werden. Selbst sog. rezessive, d. h. von
anderen überdeckte, und nur dann, wenn die Erbmasse beider Eltern sie beher¬
bergt, im Kinde in die Erscheinung tretende Anlagen könnten auf Grund solcher
Stammbücher aufgedeckt, und es könnte, sofern es sich um schwere verborgene
Krankheitsanlagen von beiden Seiten, handelt, die geplante Ehe vermieden
werden.

Die Mendelforschung hat die Bedeutung der Auslese für die Rassenhygiene
ins rechte Licht gestellt! eine Bedeutung, die auch von Becher trotz seiner Ver-


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in Vollwertige verwandeln kann durch Änderung der Lsbensumstände, so brauche
ich sie natürlich nicht von der Fortpflanzung lauszuschließen. Auffallend ist mir,
daß die Lamarckisten sich nicht sagen, daß, wenn Übung eines Organs die ent¬
sprechende Erbanlage verbessert, selbst bei nur ganz minimalen Fortschritten von
Geschlecht zu Geschlecht, die Menschheit eine bereits viel höhere Stufe der Voll¬
kommenheit erreicht haben müßte, als sie heute tatsächlich einnimmt. Gewiß,
wir haben in sittlicher Hinsicht große Fortschritte im Laufe der Jahrtausende
gemacht, insonderheit hat die Nächstenliebe unter der Herrschaft des Christen¬
tums eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren: die Kinder werden aber
heute noch mit mehr oder minder ausgesprochener Ichsucht gehöre« und müssen
immer wieder erst zum Altruismus erzogen werden. Überhaupt wird kaum ein
Pädagoge die Behauptung wagen, daß die Erziehung der Jugend, wenn wir von
den technischen Hilfsmitteln absehen, heute leichter ist, als sie vermutlich vor
etlichen tausend Jahren war, was bei der starken Pflege, welche die sozialen
Instinkte mit fortschreitender Kultur erfahren haben, doch der Fall sein müßte,
wenn der Lamarckismus zu Recht bestände. Unsere Fortschritte sind bedingt
durch Steigerung der überlieferungswerte, nicht der Erbwerte.

Die den Lamarckismus bestreitende Weismannsche Lehre von der „Konti¬
nuität des K.imwasmciS", d. t>, der Erbmasse, und dessen Unbel'influßömkeit,
durch die Umwelt hat nun durch die neuere Zell- und Erblichkeitsforschung eine
starke Stütze erhalten. Semons Versuch, zwischen jener ersteren Lehre und dem
Lamarckismus eine Brücke zu schlagen, war geistvoll, ist aber durchaus mißglückt.
Die ausgezeichnete Darstellung der von: Augustinerpater Gregor Mendel in den
sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefundenen, aber unbeachtet ge¬
bliebenen und 1901 von Eorreus, Tschermak und de Nries neu entdeckten Ver-
erbungsregeln — (oder man darf heute dreist sagen Gesetzen) —bildet eine wert¬
volle, dringlich gewordene Bereicherung der 3. Auflage des Schallmayerschen
Buches. Wir dürfen heute sagen, daß alle Vererbung zweieltriger Wesen ein
„Wendeln" ist, d. h. nach den genannten Gesetzen sür Kreuzungen geschieht.
Die Vererbung erfolgt mit zahlenmäßiger Gesetzmäßigkeit, so daß bei weniger zu-
sammengesetzten Lebewesen, z. B. etlichen Pflanzen, der erfahrene Forscher vor¬
hersagen kann, in welchem Zahlenverhältnis die Kreuzungsprodukte Blätter und
Blüten von dieser oder jener Gestalt bezw. dieser oder jener Farbe haben werden.
Beim Menschen liegen die Verhältnisse natürlich viel verwickelter. Wegen der
Fülle der Erbeinheiten, die eine in die Millionen gehende verschiedene Zu-
sammenfügunq gestatten und sich zum Teil gegenseitig bedingen, zumal strenge
Inzucht ausgeschlossen ist, eine Voraussage unmöglich. Menschen nach Mendel-
schen Regeln züchten, das können wir nicht. Trotzdem ist deren Entdeckung für
die praktische Rassenhygiene von großem Wert. Indem diese Regeln das alt-
Wort bestätigen „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", lehren sie die hohe
Bedeutung 'der von Schallmaher schon 1891 geforderten erbbiographischen Per¬
sonalbogen für die Eugenik. Diese Bogen, in welche für jede Person von ihrer
Geburt an gewisse zur Beurteilung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen Erb¬
anlagen dienliche Beobachtungen durch zuständige Personen eingetragen werden
sollen, würden allmählich zu Familienstammbüchern anwachsen, „die nicht nur
über pathologische, sondern auch über andere bemerkenswerte Erbanlagen ver
Borfnhren und ihrer Seitenvevwandten Aufschluß gäben". Damit würde dem
heute noch in weitem Umfang zu Recht bestehenden Einwand, wir können keine
Eheverbote erlassen, denn wir sind außerstande, die Erbanlagen eines Menschen
zu erkennen, der Boden entzogen zu werden. Selbst sog. rezessive, d. h. von
anderen überdeckte, und nur dann, wenn die Erbmasse beider Eltern sie beher¬
bergt, im Kinde in die Erscheinung tretende Anlagen könnten auf Grund solcher
Stammbücher aufgedeckt, und es könnte, sofern es sich um schwere verborgene
Krankheitsanlagen von beiden Seiten, handelt, die geplante Ehe vermieden
werden.

Die Mendelforschung hat die Bedeutung der Auslese für die Rassenhygiene
ins rechte Licht gestellt! eine Bedeutung, die auch von Becher trotz seiner Ver-


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[0103] Neue Bücher in Vollwertige verwandeln kann durch Änderung der Lsbensumstände, so brauche ich sie natürlich nicht von der Fortpflanzung lauszuschließen. Auffallend ist mir, daß die Lamarckisten sich nicht sagen, daß, wenn Übung eines Organs die ent¬ sprechende Erbanlage verbessert, selbst bei nur ganz minimalen Fortschritten von Geschlecht zu Geschlecht, die Menschheit eine bereits viel höhere Stufe der Voll¬ kommenheit erreicht haben müßte, als sie heute tatsächlich einnimmt. Gewiß, wir haben in sittlicher Hinsicht große Fortschritte im Laufe der Jahrtausende gemacht, insonderheit hat die Nächstenliebe unter der Herrschaft des Christen¬ tums eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren: die Kinder werden aber heute noch mit mehr oder minder ausgesprochener Ichsucht gehöre« und müssen immer wieder erst zum Altruismus erzogen werden. Überhaupt wird kaum ein Pädagoge die Behauptung wagen, daß die Erziehung der Jugend, wenn wir von den technischen Hilfsmitteln absehen, heute leichter ist, als sie vermutlich vor etlichen tausend Jahren war, was bei der starken Pflege, welche die sozialen Instinkte mit fortschreitender Kultur erfahren haben, doch der Fall sein müßte, wenn der Lamarckismus zu Recht bestände. Unsere Fortschritte sind bedingt durch Steigerung der überlieferungswerte, nicht der Erbwerte. Die den Lamarckismus bestreitende Weismannsche Lehre von der „Konti¬ nuität des K.imwasmciS", d. t>, der Erbmasse, und dessen Unbel'influßömkeit, durch die Umwelt hat nun durch die neuere Zell- und Erblichkeitsforschung eine starke Stütze erhalten. Semons Versuch, zwischen jener ersteren Lehre und dem Lamarckismus eine Brücke zu schlagen, war geistvoll, ist aber durchaus mißglückt. Die ausgezeichnete Darstellung der von: Augustinerpater Gregor Mendel in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gefundenen, aber unbeachtet ge¬ bliebenen und 1901 von Eorreus, Tschermak und de Nries neu entdeckten Ver- erbungsregeln — (oder man darf heute dreist sagen Gesetzen) —bildet eine wert¬ volle, dringlich gewordene Bereicherung der 3. Auflage des Schallmayerschen Buches. Wir dürfen heute sagen, daß alle Vererbung zweieltriger Wesen ein „Wendeln" ist, d. h. nach den genannten Gesetzen sür Kreuzungen geschieht. Die Vererbung erfolgt mit zahlenmäßiger Gesetzmäßigkeit, so daß bei weniger zu- sammengesetzten Lebewesen, z. B. etlichen Pflanzen, der erfahrene Forscher vor¬ hersagen kann, in welchem Zahlenverhältnis die Kreuzungsprodukte Blätter und Blüten von dieser oder jener Gestalt bezw. dieser oder jener Farbe haben werden. Beim Menschen liegen die Verhältnisse natürlich viel verwickelter. Wegen der Fülle der Erbeinheiten, die eine in die Millionen gehende verschiedene Zu- sammenfügunq gestatten und sich zum Teil gegenseitig bedingen, zumal strenge Inzucht ausgeschlossen ist, eine Voraussage unmöglich. Menschen nach Mendel- schen Regeln züchten, das können wir nicht. Trotzdem ist deren Entdeckung für die praktische Rassenhygiene von großem Wert. Indem diese Regeln das alt- Wort bestätigen „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen", lehren sie die hohe Bedeutung 'der von Schallmaher schon 1891 geforderten erbbiographischen Per¬ sonalbogen für die Eugenik. Diese Bogen, in welche für jede Person von ihrer Geburt an gewisse zur Beurteilung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen Erb¬ anlagen dienliche Beobachtungen durch zuständige Personen eingetragen werden sollen, würden allmählich zu Familienstammbüchern anwachsen, „die nicht nur über pathologische, sondern auch über andere bemerkenswerte Erbanlagen ver Borfnhren und ihrer Seitenvevwandten Aufschluß gäben". Damit würde dem heute noch in weitem Umfang zu Recht bestehenden Einwand, wir können keine Eheverbote erlassen, denn wir sind außerstande, die Erbanlagen eines Menschen zu erkennen, der Boden entzogen zu werden. Selbst sog. rezessive, d. h. von anderen überdeckte, und nur dann, wenn die Erbmasse beider Eltern sie beher¬ bergt, im Kinde in die Erscheinung tretende Anlagen könnten auf Grund solcher Stammbücher aufgedeckt, und es könnte, sofern es sich um schwere verborgene Krankheitsanlagen von beiden Seiten, handelt, die geplante Ehe vermieden werden. Die Mendelforschung hat die Bedeutung der Auslese für die Rassenhygiene ins rechte Licht gestellt! eine Bedeutung, die auch von Becher trotz seiner Ver- 8*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/103>, abgerufen am 09.06.2024.