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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Geistige Typen

etwas Substantielles begreifen; das ist der Typus der Statiker. Ihm gegenüber
finden wir Menschen, die jede Wahrnehmung als belebt, bewegt, handelnd erleben;
selbst tatsächlich ruhende Gegenstände erscheinen ihnen in potentieller . . . Bewe¬
gung; ihre Fantasie und ihr Denken lassen ihnen die ganze Welt wie ein
stürmisches Drama erscheinen. . . . Ich bezeichne diesen Typus als Dynamiker,"
Ein Gegensatz, der die ganze Neuentwicklung illustriertl Denn das antike und
mittelalterliche Ahnen und Sinnen war überwiegend fiatisch', im sechzehnten und
siebenzehnten Jahrhundert aber setzte die ungeheure dynamische Flut ein, die noch
unser heutiges Wesen und Treiben mitspült. Die Werkzcugkultur lebt statisch,
die Maschinenkultur dynamisch: so darf man's ausdrücken. Der Kapitalismus
begann; das Geld, vor der Zeit der Amsterdamer Bank ein in Truhen schlafen-
der, in Bauschönheit und Genuß umgesetzter Hort, wird zum Mittel unbegrenzter
Selbstvermehrung; es wird "angelegt", es bekommt raffende Arme, es gewinnt
verstandeswache Kräfte: aus der Wirtschaft statischer Zirkulation wird eine solche
schrankenloser Steigerung; erst ein sozialistischer Zukunftsstaat könnte uns zu
neuer Statik der Produktion und Verteilung führen. -- Gleichzeitig aber gerät
die Kunst und Poesie in den Wirbel vorher unerhörter Bewegung. Das flackernde
Lichtgeflimmer Rembrandts und Rubens blutpulsende Muskeln: wie ferne lag
das si'gar noch dem hellenistischen AltertumI Die barocke Architektur läßt Fassaden
sich schwingen, biegt Giebel, rollt fließende Voluten. rüttelt die Weilerrahmen
durch Liniendoppelung in Vibration! -- Bei Shakespeare zum ersten Male bricht
jener moderne Lebenssturm in die Poesie herein, der jeden Nerv der dramatischen
Gestalten zittern macht und uns jedes Staunen in ihren Herzkammern hören läßt:
gegenüber Hamlet und Kleopatra, Falstnsf und Prinz Heinz erscheinen noch die
wärmsten Menschen des Aeschylos und Euripides maskenhaft, starr, eben "statisch"
gesehen. -- Abermals gleichzeitig beginnt die Erde sich zu bewegen; und die
Mathematik führt den Begriff der Fluxion ins stille Reich der Linien und Zahlen
ein; damit ermöglicht sie die moderne dynamische Physik. Und während die
griechische Philosophie die "Ideen" ewigen Seins zum Kanon der Wahrheit sich
wählte, zielt die neue Wissenschaft nach den "Gesetzen" des Geschehens. -- Wie
steht es nun? Sind die dynamischen Naturen immer die späten? Also daß
Hellas, wenn es lange genug gelebt batie, auch noch seiner statischen Art entwachsen
wäre? Oder ist die Dynamik vielmehr Germanenart? Wer die wildverschlungene
Orncunemik unsrer frühen Vorfahren mit den stillen Mäandern und Eierstäben der
Griechen vergleicht, die zackentolle, himmelstürmende Gotik mit den heiteren Tempeln
der Olympier: möchte eher für die zweite Annahme sich entscheiden.




Kurt Breysig zeigt, daß seit dein Beginne germanischer Vemtntigkeit die
verhältnismäßige Höhe der Kirchenschiffe beständig zunahm, bis in der großen
Gotik das Maximum erreicht wurde. So reckt der Deutsche auch seine Domtürme
und Burgen in die Wolken. Das ist der Drang ins abgründige Blau, ins
Grenzenlose. Er drückt sich mathematisch in der Infinitesimalrechnung der Ger¬
manen Newton und Leibniz ans. philosophisch in Leibniz' Monadenleyre; in
seinen Phantasien von Weltunendlichkeiten noch im Atom. Derselbe Sturm braust
im Faust und im Peer Gynt -- nie hätte griechische oder romanische Phantasie
solche Segler ins Unbegrenzte ersonnen! Aber auch in den zahllosen Lichtüber¬
gängen der Niederländer und der modernen Impressionisten lebt dieser Zug, der
uns deutsche Wanderer nach weiten Meeren, nach endlosen Heiden, nach öden
Gletscherwüsten reißt. Sehnsucht, jeden Bezirk zu überspringen! -- Auch im alten
Orient häufte man enorme Massen und rechnete mit ungeheuerlichen Zeiträumen.
Aber während der Nordländer als Dynamiker über alle Schranken drängt und
von ewigem Fortschritt träumt, liebt der Mensch des Ostens die ewige Ruhe;
seine Pyramiden und Kolossaltempel streben nicht in Lüfte, sondern lagern sich
breit und tot in statischer Starrheit. -- Im Gegensatz nun zu jenem bewegten
mit diesem stummen Größenübcrschwcmg umzirkelt Hellenen und Romanen all


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Geistige Typen

etwas Substantielles begreifen; das ist der Typus der Statiker. Ihm gegenüber
finden wir Menschen, die jede Wahrnehmung als belebt, bewegt, handelnd erleben;
selbst tatsächlich ruhende Gegenstände erscheinen ihnen in potentieller . . . Bewe¬
gung; ihre Fantasie und ihr Denken lassen ihnen die ganze Welt wie ein
stürmisches Drama erscheinen. . . . Ich bezeichne diesen Typus als Dynamiker,"
Ein Gegensatz, der die ganze Neuentwicklung illustriertl Denn das antike und
mittelalterliche Ahnen und Sinnen war überwiegend fiatisch', im sechzehnten und
siebenzehnten Jahrhundert aber setzte die ungeheure dynamische Flut ein, die noch
unser heutiges Wesen und Treiben mitspült. Die Werkzcugkultur lebt statisch,
die Maschinenkultur dynamisch: so darf man's ausdrücken. Der Kapitalismus
begann; das Geld, vor der Zeit der Amsterdamer Bank ein in Truhen schlafen-
der, in Bauschönheit und Genuß umgesetzter Hort, wird zum Mittel unbegrenzter
Selbstvermehrung; es wird „angelegt", es bekommt raffende Arme, es gewinnt
verstandeswache Kräfte: aus der Wirtschaft statischer Zirkulation wird eine solche
schrankenloser Steigerung; erst ein sozialistischer Zukunftsstaat könnte uns zu
neuer Statik der Produktion und Verteilung führen. — Gleichzeitig aber gerät
die Kunst und Poesie in den Wirbel vorher unerhörter Bewegung. Das flackernde
Lichtgeflimmer Rembrandts und Rubens blutpulsende Muskeln: wie ferne lag
das si'gar noch dem hellenistischen AltertumI Die barocke Architektur läßt Fassaden
sich schwingen, biegt Giebel, rollt fließende Voluten. rüttelt die Weilerrahmen
durch Liniendoppelung in Vibration! — Bei Shakespeare zum ersten Male bricht
jener moderne Lebenssturm in die Poesie herein, der jeden Nerv der dramatischen
Gestalten zittern macht und uns jedes Staunen in ihren Herzkammern hören läßt:
gegenüber Hamlet und Kleopatra, Falstnsf und Prinz Heinz erscheinen noch die
wärmsten Menschen des Aeschylos und Euripides maskenhaft, starr, eben „statisch"
gesehen. — Abermals gleichzeitig beginnt die Erde sich zu bewegen; und die
Mathematik führt den Begriff der Fluxion ins stille Reich der Linien und Zahlen
ein; damit ermöglicht sie die moderne dynamische Physik. Und während die
griechische Philosophie die „Ideen" ewigen Seins zum Kanon der Wahrheit sich
wählte, zielt die neue Wissenschaft nach den „Gesetzen" des Geschehens. — Wie
steht es nun? Sind die dynamischen Naturen immer die späten? Also daß
Hellas, wenn es lange genug gelebt batie, auch noch seiner statischen Art entwachsen
wäre? Oder ist die Dynamik vielmehr Germanenart? Wer die wildverschlungene
Orncunemik unsrer frühen Vorfahren mit den stillen Mäandern und Eierstäben der
Griechen vergleicht, die zackentolle, himmelstürmende Gotik mit den heiteren Tempeln
der Olympier: möchte eher für die zweite Annahme sich entscheiden.




Kurt Breysig zeigt, daß seit dein Beginne germanischer Vemtntigkeit die
verhältnismäßige Höhe der Kirchenschiffe beständig zunahm, bis in der großen
Gotik das Maximum erreicht wurde. So reckt der Deutsche auch seine Domtürme
und Burgen in die Wolken. Das ist der Drang ins abgründige Blau, ins
Grenzenlose. Er drückt sich mathematisch in der Infinitesimalrechnung der Ger¬
manen Newton und Leibniz ans. philosophisch in Leibniz' Monadenleyre; in
seinen Phantasien von Weltunendlichkeiten noch im Atom. Derselbe Sturm braust
im Faust und im Peer Gynt — nie hätte griechische oder romanische Phantasie
solche Segler ins Unbegrenzte ersonnen! Aber auch in den zahllosen Lichtüber¬
gängen der Niederländer und der modernen Impressionisten lebt dieser Zug, der
uns deutsche Wanderer nach weiten Meeren, nach endlosen Heiden, nach öden
Gletscherwüsten reißt. Sehnsucht, jeden Bezirk zu überspringen! — Auch im alten
Orient häufte man enorme Massen und rechnete mit ungeheuerlichen Zeiträumen.
Aber während der Nordländer als Dynamiker über alle Schranken drängt und
von ewigem Fortschritt träumt, liebt der Mensch des Ostens die ewige Ruhe;
seine Pyramiden und Kolossaltempel streben nicht in Lüfte, sondern lagern sich
breit und tot in statischer Starrheit. — Im Gegensatz nun zu jenem bewegten
mit diesem stummen Größenübcrschwcmg umzirkelt Hellenen und Romanen all


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[0175] Geistige Typen etwas Substantielles begreifen; das ist der Typus der Statiker. Ihm gegenüber finden wir Menschen, die jede Wahrnehmung als belebt, bewegt, handelnd erleben; selbst tatsächlich ruhende Gegenstände erscheinen ihnen in potentieller . . . Bewe¬ gung; ihre Fantasie und ihr Denken lassen ihnen die ganze Welt wie ein stürmisches Drama erscheinen. . . . Ich bezeichne diesen Typus als Dynamiker," Ein Gegensatz, der die ganze Neuentwicklung illustriertl Denn das antike und mittelalterliche Ahnen und Sinnen war überwiegend fiatisch', im sechzehnten und siebenzehnten Jahrhundert aber setzte die ungeheure dynamische Flut ein, die noch unser heutiges Wesen und Treiben mitspült. Die Werkzcugkultur lebt statisch, die Maschinenkultur dynamisch: so darf man's ausdrücken. Der Kapitalismus begann; das Geld, vor der Zeit der Amsterdamer Bank ein in Truhen schlafen- der, in Bauschönheit und Genuß umgesetzter Hort, wird zum Mittel unbegrenzter Selbstvermehrung; es wird „angelegt", es bekommt raffende Arme, es gewinnt verstandeswache Kräfte: aus der Wirtschaft statischer Zirkulation wird eine solche schrankenloser Steigerung; erst ein sozialistischer Zukunftsstaat könnte uns zu neuer Statik der Produktion und Verteilung führen. — Gleichzeitig aber gerät die Kunst und Poesie in den Wirbel vorher unerhörter Bewegung. Das flackernde Lichtgeflimmer Rembrandts und Rubens blutpulsende Muskeln: wie ferne lag das si'gar noch dem hellenistischen AltertumI Die barocke Architektur läßt Fassaden sich schwingen, biegt Giebel, rollt fließende Voluten. rüttelt die Weilerrahmen durch Liniendoppelung in Vibration! — Bei Shakespeare zum ersten Male bricht jener moderne Lebenssturm in die Poesie herein, der jeden Nerv der dramatischen Gestalten zittern macht und uns jedes Staunen in ihren Herzkammern hören läßt: gegenüber Hamlet und Kleopatra, Falstnsf und Prinz Heinz erscheinen noch die wärmsten Menschen des Aeschylos und Euripides maskenhaft, starr, eben „statisch" gesehen. — Abermals gleichzeitig beginnt die Erde sich zu bewegen; und die Mathematik führt den Begriff der Fluxion ins stille Reich der Linien und Zahlen ein; damit ermöglicht sie die moderne dynamische Physik. Und während die griechische Philosophie die „Ideen" ewigen Seins zum Kanon der Wahrheit sich wählte, zielt die neue Wissenschaft nach den „Gesetzen" des Geschehens. — Wie steht es nun? Sind die dynamischen Naturen immer die späten? Also daß Hellas, wenn es lange genug gelebt batie, auch noch seiner statischen Art entwachsen wäre? Oder ist die Dynamik vielmehr Germanenart? Wer die wildverschlungene Orncunemik unsrer frühen Vorfahren mit den stillen Mäandern und Eierstäben der Griechen vergleicht, die zackentolle, himmelstürmende Gotik mit den heiteren Tempeln der Olympier: möchte eher für die zweite Annahme sich entscheiden. Kurt Breysig zeigt, daß seit dein Beginne germanischer Vemtntigkeit die verhältnismäßige Höhe der Kirchenschiffe beständig zunahm, bis in der großen Gotik das Maximum erreicht wurde. So reckt der Deutsche auch seine Domtürme und Burgen in die Wolken. Das ist der Drang ins abgründige Blau, ins Grenzenlose. Er drückt sich mathematisch in der Infinitesimalrechnung der Ger¬ manen Newton und Leibniz ans. philosophisch in Leibniz' Monadenleyre; in seinen Phantasien von Weltunendlichkeiten noch im Atom. Derselbe Sturm braust im Faust und im Peer Gynt — nie hätte griechische oder romanische Phantasie solche Segler ins Unbegrenzte ersonnen! Aber auch in den zahllosen Lichtüber¬ gängen der Niederländer und der modernen Impressionisten lebt dieser Zug, der uns deutsche Wanderer nach weiten Meeren, nach endlosen Heiden, nach öden Gletscherwüsten reißt. Sehnsucht, jeden Bezirk zu überspringen! — Auch im alten Orient häufte man enorme Massen und rechnete mit ungeheuerlichen Zeiträumen. Aber während der Nordländer als Dynamiker über alle Schranken drängt und von ewigem Fortschritt träumt, liebt der Mensch des Ostens die ewige Ruhe; seine Pyramiden und Kolossaltempel streben nicht in Lüfte, sondern lagern sich breit und tot in statischer Starrheit. — Im Gegensatz nun zu jenem bewegten mit diesem stummen Größenübcrschwcmg umzirkelt Hellenen und Romanen all 14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/175>, abgerufen am 15.05.2024.