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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Geistige Typen

ihre Gestaltungen mit bewußten Griffen; den ins Grenzlose verdämmernden treten
die formenden Naturen zur Seite, den rein malerischen die bildenden. Worauf
beruht der Unterschied?

Man pflegt optische, akustische und motorische Menschen zu unterscheiden --
nach der Rolle, die im Geistesleben die drei Sinnesgebiete spielen. Nun ent¬
springt alle Auffassung von Räumlichkeit. Gestalt, Rhythmus der Motorik der
Sinnes-- und Stimmorgane; insofern hat Müller-Freienfels völlig recht, wenn er
die Formseher im Gegensatz zu den "rein visuellen" Farbengenießern als "visuell¬
motorisch", die Nhythmenhörer im Gegensatz zu den "rein auditorischen" Schwelgern
in Klängen als ..auditorisch-notorisch" bezeichnet. Doch möchte ich seine Darstellung
durch die Hypothese ergänzen, daß das Bewegungsleben des Rumpfes, der Glied-
maßen, zumal aber des Adersystems selbständige Wichtigkeit für die Konsumtion der
Seele hat und daß die ihm entstammenden Vorstellungen bei schwächerer optischer
und akustischer Anlage das Gedächtnis beherrschen können. Diesen Typ würde ich als
fünften, als "rein motorischen" den vier Typen unsres Verfassers beiordnen und nun
annehmen: bei starkem Vortreten der Leibesmotorik im geistigen Getriebe ent¬
wickelt sich die dynamische, bei ihrem Zurücktreten die statische Art. (Vgl. die
zweifelnden Bemerkungen bei Müller-Freienfels, S. 163 f.) Bei dem statischen
Schwimmer im Unendlichen spielt also die Motorik überhaupt eine geringe Rolle
(Ägypter und Inder); beim statischen Formmenschen überwiegt die Motorik der
Sinnes- oder Stimmorgane die des übrigen Leibes an Wichtigkeit für den Gesamt¬
intellekt (Griechen und Romanen: Cartesius und Kant; Platen und C. F. Meyer;
Marees und Hildobrand); beim dynamischen Formmenschen ist jede Art von
Motorik energisch entwickelt (Shakespeare, Rubens); beim formensprengenden
Dynamiker ist die Bedeutsamkeit der Ader- und sonstigen Leibesinnervationen fürs
seelische Geschehen größer als die der Bewegungen der Sinnes- und Stimm-
organe; diese stehen gegenüber den Eindrücken auf Netzhaut und Cortiorgcm im
Schatten (der eigentlich germanische Typ).




Das Trachten über alle Grenzen hinaus. Süßere sich's nun in dynamisch
gefühlten Kathedralen oder in der statischen Wucht von Sphinxen und Pyramiden,
ist dem Sinn fürs Erhabene verwandt. Der eignet einem besonderen Typus:
Müller-Freienfels charakterisiert ihn durch das Vorwalten leidender Stimmungen.
Auch die Entstehung der Tragödie leitet er -- im Gegensatze zu Nietzsche -- aus
finstern und gedrückten Seelenzuständen her. Wobei er freilich nicht leugnet, daß
sich im tragischen Genuß wie im Erlebnis des Erhabenen der Geist gegen die
Schwere seiner Bedrängnisse aufbäumt. Ist aber die Grundauffassung richtig?

Unser Leib mag die Probe machen. Zu einer Alpenwand emporblickend
oder unter den Donnern des Rheinfalles zitternd: fühlen wir unsere Brust sich
verengen, als laste ein Gewicht auf den Schulterbeinen? Oder weitet sie sich
vielmehr wie in reinerer Lust? Sie weitet, sie hebt sich, die Adern klopfen
stürmisch froh. Das macht, uns ist, als beginne unser eigenes schmales Ich jene
Himmelhohen zu überspannen, in dieser wilden Naturkraft mitzubrausen. So
lernen wir in der Sophienkuppel schweben, in den Gewölben des Kölner Doms
emporfliegen: alles Erhabene beseligt uns, indem es uns über die Kleinheit unseres
Alltags und unsrer Körperlichkeit hinaushebt. Unser Irdisches verachten wir
wohl angesichts des Großen, das vor uns hintritt; "wir" aber sind dann eben schon
nicht mehr unser Irdisches; "wir" sind in der Phantasie dem Großen eingeschmolzen
und im Gefühl der neuen Größe beglückt. Und dieser Triumph hochgemutester
Einfühlung sollte einem depressiven Affekt entspringen? -- Ganz ähnlich aber steht's
mit dem Genuß des Tragischen, das dem Erhabenen verschwistert ist. Wir sehnen
uns aus den Beschränkungen unserer Bürgerlichkeit hinweg -- in ein Treiben,
wo alle Leidenschaften sich austoben und alle unbändigen Knospen ihre un¬
bändigsten Früchte bringen dürfen; anderseits fürchten die Meisten von uns sich
freilich vor Folgen allzu gewagter Abenteuer (es gibt auch solche, die sich nicht


Geistige Typen

ihre Gestaltungen mit bewußten Griffen; den ins Grenzlose verdämmernden treten
die formenden Naturen zur Seite, den rein malerischen die bildenden. Worauf
beruht der Unterschied?

Man pflegt optische, akustische und motorische Menschen zu unterscheiden —
nach der Rolle, die im Geistesleben die drei Sinnesgebiete spielen. Nun ent¬
springt alle Auffassung von Räumlichkeit. Gestalt, Rhythmus der Motorik der
Sinnes-- und Stimmorgane; insofern hat Müller-Freienfels völlig recht, wenn er
die Formseher im Gegensatz zu den „rein visuellen" Farbengenießern als „visuell¬
motorisch", die Nhythmenhörer im Gegensatz zu den „rein auditorischen" Schwelgern
in Klängen als ..auditorisch-notorisch" bezeichnet. Doch möchte ich seine Darstellung
durch die Hypothese ergänzen, daß das Bewegungsleben des Rumpfes, der Glied-
maßen, zumal aber des Adersystems selbständige Wichtigkeit für die Konsumtion der
Seele hat und daß die ihm entstammenden Vorstellungen bei schwächerer optischer
und akustischer Anlage das Gedächtnis beherrschen können. Diesen Typ würde ich als
fünften, als „rein motorischen" den vier Typen unsres Verfassers beiordnen und nun
annehmen: bei starkem Vortreten der Leibesmotorik im geistigen Getriebe ent¬
wickelt sich die dynamische, bei ihrem Zurücktreten die statische Art. (Vgl. die
zweifelnden Bemerkungen bei Müller-Freienfels, S. 163 f.) Bei dem statischen
Schwimmer im Unendlichen spielt also die Motorik überhaupt eine geringe Rolle
(Ägypter und Inder); beim statischen Formmenschen überwiegt die Motorik der
Sinnes- oder Stimmorgane die des übrigen Leibes an Wichtigkeit für den Gesamt¬
intellekt (Griechen und Romanen: Cartesius und Kant; Platen und C. F. Meyer;
Marees und Hildobrand); beim dynamischen Formmenschen ist jede Art von
Motorik energisch entwickelt (Shakespeare, Rubens); beim formensprengenden
Dynamiker ist die Bedeutsamkeit der Ader- und sonstigen Leibesinnervationen fürs
seelische Geschehen größer als die der Bewegungen der Sinnes- und Stimm-
organe; diese stehen gegenüber den Eindrücken auf Netzhaut und Cortiorgcm im
Schatten (der eigentlich germanische Typ).




Das Trachten über alle Grenzen hinaus. Süßere sich's nun in dynamisch
gefühlten Kathedralen oder in der statischen Wucht von Sphinxen und Pyramiden,
ist dem Sinn fürs Erhabene verwandt. Der eignet einem besonderen Typus:
Müller-Freienfels charakterisiert ihn durch das Vorwalten leidender Stimmungen.
Auch die Entstehung der Tragödie leitet er — im Gegensatze zu Nietzsche — aus
finstern und gedrückten Seelenzuständen her. Wobei er freilich nicht leugnet, daß
sich im tragischen Genuß wie im Erlebnis des Erhabenen der Geist gegen die
Schwere seiner Bedrängnisse aufbäumt. Ist aber die Grundauffassung richtig?

Unser Leib mag die Probe machen. Zu einer Alpenwand emporblickend
oder unter den Donnern des Rheinfalles zitternd: fühlen wir unsere Brust sich
verengen, als laste ein Gewicht auf den Schulterbeinen? Oder weitet sie sich
vielmehr wie in reinerer Lust? Sie weitet, sie hebt sich, die Adern klopfen
stürmisch froh. Das macht, uns ist, als beginne unser eigenes schmales Ich jene
Himmelhohen zu überspannen, in dieser wilden Naturkraft mitzubrausen. So
lernen wir in der Sophienkuppel schweben, in den Gewölben des Kölner Doms
emporfliegen: alles Erhabene beseligt uns, indem es uns über die Kleinheit unseres
Alltags und unsrer Körperlichkeit hinaushebt. Unser Irdisches verachten wir
wohl angesichts des Großen, das vor uns hintritt; „wir" aber sind dann eben schon
nicht mehr unser Irdisches; „wir" sind in der Phantasie dem Großen eingeschmolzen
und im Gefühl der neuen Größe beglückt. Und dieser Triumph hochgemutester
Einfühlung sollte einem depressiven Affekt entspringen? — Ganz ähnlich aber steht's
mit dem Genuß des Tragischen, das dem Erhabenen verschwistert ist. Wir sehnen
uns aus den Beschränkungen unserer Bürgerlichkeit hinweg — in ein Treiben,
wo alle Leidenschaften sich austoben und alle unbändigen Knospen ihre un¬
bändigsten Früchte bringen dürfen; anderseits fürchten die Meisten von uns sich
freilich vor Folgen allzu gewagter Abenteuer (es gibt auch solche, die sich nicht


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[0176] Geistige Typen ihre Gestaltungen mit bewußten Griffen; den ins Grenzlose verdämmernden treten die formenden Naturen zur Seite, den rein malerischen die bildenden. Worauf beruht der Unterschied? Man pflegt optische, akustische und motorische Menschen zu unterscheiden — nach der Rolle, die im Geistesleben die drei Sinnesgebiete spielen. Nun ent¬ springt alle Auffassung von Räumlichkeit. Gestalt, Rhythmus der Motorik der Sinnes-- und Stimmorgane; insofern hat Müller-Freienfels völlig recht, wenn er die Formseher im Gegensatz zu den „rein visuellen" Farbengenießern als „visuell¬ motorisch", die Nhythmenhörer im Gegensatz zu den „rein auditorischen" Schwelgern in Klängen als ..auditorisch-notorisch" bezeichnet. Doch möchte ich seine Darstellung durch die Hypothese ergänzen, daß das Bewegungsleben des Rumpfes, der Glied- maßen, zumal aber des Adersystems selbständige Wichtigkeit für die Konsumtion der Seele hat und daß die ihm entstammenden Vorstellungen bei schwächerer optischer und akustischer Anlage das Gedächtnis beherrschen können. Diesen Typ würde ich als fünften, als „rein motorischen" den vier Typen unsres Verfassers beiordnen und nun annehmen: bei starkem Vortreten der Leibesmotorik im geistigen Getriebe ent¬ wickelt sich die dynamische, bei ihrem Zurücktreten die statische Art. (Vgl. die zweifelnden Bemerkungen bei Müller-Freienfels, S. 163 f.) Bei dem statischen Schwimmer im Unendlichen spielt also die Motorik überhaupt eine geringe Rolle (Ägypter und Inder); beim statischen Formmenschen überwiegt die Motorik der Sinnes- oder Stimmorgane die des übrigen Leibes an Wichtigkeit für den Gesamt¬ intellekt (Griechen und Romanen: Cartesius und Kant; Platen und C. F. Meyer; Marees und Hildobrand); beim dynamischen Formmenschen ist jede Art von Motorik energisch entwickelt (Shakespeare, Rubens); beim formensprengenden Dynamiker ist die Bedeutsamkeit der Ader- und sonstigen Leibesinnervationen fürs seelische Geschehen größer als die der Bewegungen der Sinnes- und Stimm- organe; diese stehen gegenüber den Eindrücken auf Netzhaut und Cortiorgcm im Schatten (der eigentlich germanische Typ). Das Trachten über alle Grenzen hinaus. Süßere sich's nun in dynamisch gefühlten Kathedralen oder in der statischen Wucht von Sphinxen und Pyramiden, ist dem Sinn fürs Erhabene verwandt. Der eignet einem besonderen Typus: Müller-Freienfels charakterisiert ihn durch das Vorwalten leidender Stimmungen. Auch die Entstehung der Tragödie leitet er — im Gegensatze zu Nietzsche — aus finstern und gedrückten Seelenzuständen her. Wobei er freilich nicht leugnet, daß sich im tragischen Genuß wie im Erlebnis des Erhabenen der Geist gegen die Schwere seiner Bedrängnisse aufbäumt. Ist aber die Grundauffassung richtig? Unser Leib mag die Probe machen. Zu einer Alpenwand emporblickend oder unter den Donnern des Rheinfalles zitternd: fühlen wir unsere Brust sich verengen, als laste ein Gewicht auf den Schulterbeinen? Oder weitet sie sich vielmehr wie in reinerer Lust? Sie weitet, sie hebt sich, die Adern klopfen stürmisch froh. Das macht, uns ist, als beginne unser eigenes schmales Ich jene Himmelhohen zu überspannen, in dieser wilden Naturkraft mitzubrausen. So lernen wir in der Sophienkuppel schweben, in den Gewölben des Kölner Doms emporfliegen: alles Erhabene beseligt uns, indem es uns über die Kleinheit unseres Alltags und unsrer Körperlichkeit hinaushebt. Unser Irdisches verachten wir wohl angesichts des Großen, das vor uns hintritt; „wir" aber sind dann eben schon nicht mehr unser Irdisches; „wir" sind in der Phantasie dem Großen eingeschmolzen und im Gefühl der neuen Größe beglückt. Und dieser Triumph hochgemutester Einfühlung sollte einem depressiven Affekt entspringen? — Ganz ähnlich aber steht's mit dem Genuß des Tragischen, das dem Erhabenen verschwistert ist. Wir sehnen uns aus den Beschränkungen unserer Bürgerlichkeit hinweg — in ein Treiben, wo alle Leidenschaften sich austoben und alle unbändigen Knospen ihre un¬ bändigsten Früchte bringen dürfen; anderseits fürchten die Meisten von uns sich freilich vor Folgen allzu gewagter Abenteuer (es gibt auch solche, die sich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/176>, abgerufen am 04.06.2024.