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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Neues über die Kriegsschuld

Der ganze Kampf zwischen Pourtales und Sasonow, der sich vom 24. Juli
ab Tag für Tag und fast jedesmal mit den gleichen Argumenten und Gegen¬
argumenten abspielt, dreht sich darum, daß Sasonow an der Forderung eines
europäischen Verdikts über die serbische Angelegenheit mit absoluter Starrheit
festhält, in dem Glauben, durch eine auch vor der Mobilmachung nicht zurück¬
schreckende Festigkeit die Gegenpartei zum Nachgeben zu veranlassen, während
Graf Pourtales die verhängnisvollen Folgen einer russischen Mobilmachung
voraussieht und abzuwenden versucht. Die inneren psychologischen Gründe für
dieses Verhalten Sasonows gibt Graf Pourtales in folgenden Worten wieder:
"Der von diesen (den Nationalisten und Deutschenhetzern) gegen ihn gerichtete
Vorwurf, daß er während des Balkankrieges Österreich-Ungarn gegenüber zu
nachgiebig gewesen sei und daß ihn ein großer Teil der Schuld treffe, wenn das
Schlußergebnis dieses Krieges die wahren Freunde des Slawentums enttäuscht
habe, lastete sichtlich auf ihm." Auch hier das Bild eines schwachen Charakters,
eines Menschen, der unter Vorwurf und Kritik seelisch leidet, weil sie seinen
Ehrgeiz verletzen, und der nicht die Selbstsicherheit hat, sich darüber hinweg¬
zusetzen. Und einige Seiten später heißt es: "Er (Sasonow) gab sich der ver¬
hängnisvollen Täuschung hin, daß Deutschland, wenn eS einsehen würde, daß
Rußland entschlossen sei, es dieses Mal zum äußersten kommen zu lassen, seine
Verbündeten im Stiche lassen und daß auf diese Weise Rußland mit der Triple-
Entente einen diplomatischen Erfolg erringen werde, der zugleich eine Vergeltung
für die diplomatische Niederlage in der böhmischen Frage im Jahre 1909 sein
würde." Also eine Politik des Bluffs, eines Draufgängertums, das nur auf
Einschüchterung berechnet ist und keine wirkliche Kraft hinter sich hat. Vor allem
aber eine Politik, der der Ernst eines starken Verantwortungsgefühls abgeht.

Sasonow erscheint somit als der Mann, der, wie man zu sagen pflegt, sich
festgeblufft hat und aus der Sackgasse, in die er gerannt ist, nicht wieder heraus
kann und infolgedessen in die Gewalt der Militärs und der Kriegspartei gerät.
Welche Argumente bei den damit matzgebend gewordenen Persönlichkeiten durch¬
schlagend waren, erhellt aus den folgenden Sätzen der Pourtalesschen Broschüre:
"Graf Fredericksz gab darauf zu verstehen, der Kriegsminister Suchomlinow und
der Minister des Innern Maklakow hätten die Mobilmachungsorder durchgesetzt.
Ersterer sei von der Angst vor Überraschungen beherrscht gewesen, während der
letztere den Kaiser zu überzeugen verstanden habe, daß die innere Lage Rußlands
auf eine Entscheidung dränge." Dieses Motiv der inneren Lage Rußlands ist
auch in den Unterhaltungen Sasonows und Pourtales' zweimal angeschlagen.
Unter dem 29. Juli heißt es: "Er fügte hinzu: .Keine Regierung würde eine
andere Politik führen können, ohne die Dynastie in ernste Gefahr zu bringen/":
unter dem 30. Juli: "Bemerkenswert erscheint es, daß Sasonow bei dieser Unter¬
redung zum zweiten Mal auf die Gefahren hinwies, die der russischen Dynastie
erwachsen würden, wenn die Regierung Österreich-Ungarn gegenüber nicht fest¬
bleibe." Die alte Lehre der Geschichte, daß die innere Schwäche der Staaten die
Hauptursache äußerer Kriege ist, findet sich bestätigt. >

Was die tatsächlichen Vorgänge betrifft, so sind die Pourtalesschen Auf¬
zeichnungen besonders bedeutsam hinsichtlich dessen, was über die Entstehungs¬
geschichte der sogenannten Sasonowschen Formel gesagt ist. Diese Formel wird
ja von der gesamten, den Standpunkt der Entente vertretenden Literatur als ein
versöhnlicher Schritt Rußlands, als eine von Sasonow ausgestreckte Friedenshand
hingestellt, die deutscherseits zurückgestoßen worden sei. Graf Pourtales schildert
nun seine Audienz bei Sasonow am 30. Juli, in deren Verlauf die Unterhaltung
wie an allen vorangegangenen Tagen infolge der Starrheit Sasonows wieder
völlig auf den toten Punkt gekommen war. Graf Pourtales erklärte Sasonow,
daß auf diese Weise Europa in den Krieg hineintreibe und fährt fort: "Mit
bewegten Worten redete ich auf den Minister ein, indem ich ihm schilderte, wie
fürchterlich dieser Krieg, dessen Umfang gar nicht abzusehen sei, werden würde.
Es dürfe, erklärte ich, kein Mittel unversucht gelassen werden, um, wenn irgend


Neues über die Kriegsschuld

Der ganze Kampf zwischen Pourtales und Sasonow, der sich vom 24. Juli
ab Tag für Tag und fast jedesmal mit den gleichen Argumenten und Gegen¬
argumenten abspielt, dreht sich darum, daß Sasonow an der Forderung eines
europäischen Verdikts über die serbische Angelegenheit mit absoluter Starrheit
festhält, in dem Glauben, durch eine auch vor der Mobilmachung nicht zurück¬
schreckende Festigkeit die Gegenpartei zum Nachgeben zu veranlassen, während
Graf Pourtales die verhängnisvollen Folgen einer russischen Mobilmachung
voraussieht und abzuwenden versucht. Die inneren psychologischen Gründe für
dieses Verhalten Sasonows gibt Graf Pourtales in folgenden Worten wieder:
„Der von diesen (den Nationalisten und Deutschenhetzern) gegen ihn gerichtete
Vorwurf, daß er während des Balkankrieges Österreich-Ungarn gegenüber zu
nachgiebig gewesen sei und daß ihn ein großer Teil der Schuld treffe, wenn das
Schlußergebnis dieses Krieges die wahren Freunde des Slawentums enttäuscht
habe, lastete sichtlich auf ihm." Auch hier das Bild eines schwachen Charakters,
eines Menschen, der unter Vorwurf und Kritik seelisch leidet, weil sie seinen
Ehrgeiz verletzen, und der nicht die Selbstsicherheit hat, sich darüber hinweg¬
zusetzen. Und einige Seiten später heißt es: „Er (Sasonow) gab sich der ver¬
hängnisvollen Täuschung hin, daß Deutschland, wenn eS einsehen würde, daß
Rußland entschlossen sei, es dieses Mal zum äußersten kommen zu lassen, seine
Verbündeten im Stiche lassen und daß auf diese Weise Rußland mit der Triple-
Entente einen diplomatischen Erfolg erringen werde, der zugleich eine Vergeltung
für die diplomatische Niederlage in der böhmischen Frage im Jahre 1909 sein
würde." Also eine Politik des Bluffs, eines Draufgängertums, das nur auf
Einschüchterung berechnet ist und keine wirkliche Kraft hinter sich hat. Vor allem
aber eine Politik, der der Ernst eines starken Verantwortungsgefühls abgeht.

Sasonow erscheint somit als der Mann, der, wie man zu sagen pflegt, sich
festgeblufft hat und aus der Sackgasse, in die er gerannt ist, nicht wieder heraus
kann und infolgedessen in die Gewalt der Militärs und der Kriegspartei gerät.
Welche Argumente bei den damit matzgebend gewordenen Persönlichkeiten durch¬
schlagend waren, erhellt aus den folgenden Sätzen der Pourtalesschen Broschüre:
„Graf Fredericksz gab darauf zu verstehen, der Kriegsminister Suchomlinow und
der Minister des Innern Maklakow hätten die Mobilmachungsorder durchgesetzt.
Ersterer sei von der Angst vor Überraschungen beherrscht gewesen, während der
letztere den Kaiser zu überzeugen verstanden habe, daß die innere Lage Rußlands
auf eine Entscheidung dränge." Dieses Motiv der inneren Lage Rußlands ist
auch in den Unterhaltungen Sasonows und Pourtales' zweimal angeschlagen.
Unter dem 29. Juli heißt es: „Er fügte hinzu: .Keine Regierung würde eine
andere Politik führen können, ohne die Dynastie in ernste Gefahr zu bringen/":
unter dem 30. Juli: „Bemerkenswert erscheint es, daß Sasonow bei dieser Unter¬
redung zum zweiten Mal auf die Gefahren hinwies, die der russischen Dynastie
erwachsen würden, wenn die Regierung Österreich-Ungarn gegenüber nicht fest¬
bleibe." Die alte Lehre der Geschichte, daß die innere Schwäche der Staaten die
Hauptursache äußerer Kriege ist, findet sich bestätigt. >

Was die tatsächlichen Vorgänge betrifft, so sind die Pourtalesschen Auf¬
zeichnungen besonders bedeutsam hinsichtlich dessen, was über die Entstehungs¬
geschichte der sogenannten Sasonowschen Formel gesagt ist. Diese Formel wird
ja von der gesamten, den Standpunkt der Entente vertretenden Literatur als ein
versöhnlicher Schritt Rußlands, als eine von Sasonow ausgestreckte Friedenshand
hingestellt, die deutscherseits zurückgestoßen worden sei. Graf Pourtales schildert
nun seine Audienz bei Sasonow am 30. Juli, in deren Verlauf die Unterhaltung
wie an allen vorangegangenen Tagen infolge der Starrheit Sasonows wieder
völlig auf den toten Punkt gekommen war. Graf Pourtales erklärte Sasonow,
daß auf diese Weise Europa in den Krieg hineintreibe und fährt fort: „Mit
bewegten Worten redete ich auf den Minister ein, indem ich ihm schilderte, wie
fürchterlich dieser Krieg, dessen Umfang gar nicht abzusehen sei, werden würde.
Es dürfe, erklärte ich, kein Mittel unversucht gelassen werden, um, wenn irgend


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[0184] Neues über die Kriegsschuld Der ganze Kampf zwischen Pourtales und Sasonow, der sich vom 24. Juli ab Tag für Tag und fast jedesmal mit den gleichen Argumenten und Gegen¬ argumenten abspielt, dreht sich darum, daß Sasonow an der Forderung eines europäischen Verdikts über die serbische Angelegenheit mit absoluter Starrheit festhält, in dem Glauben, durch eine auch vor der Mobilmachung nicht zurück¬ schreckende Festigkeit die Gegenpartei zum Nachgeben zu veranlassen, während Graf Pourtales die verhängnisvollen Folgen einer russischen Mobilmachung voraussieht und abzuwenden versucht. Die inneren psychologischen Gründe für dieses Verhalten Sasonows gibt Graf Pourtales in folgenden Worten wieder: „Der von diesen (den Nationalisten und Deutschenhetzern) gegen ihn gerichtete Vorwurf, daß er während des Balkankrieges Österreich-Ungarn gegenüber zu nachgiebig gewesen sei und daß ihn ein großer Teil der Schuld treffe, wenn das Schlußergebnis dieses Krieges die wahren Freunde des Slawentums enttäuscht habe, lastete sichtlich auf ihm." Auch hier das Bild eines schwachen Charakters, eines Menschen, der unter Vorwurf und Kritik seelisch leidet, weil sie seinen Ehrgeiz verletzen, und der nicht die Selbstsicherheit hat, sich darüber hinweg¬ zusetzen. Und einige Seiten später heißt es: „Er (Sasonow) gab sich der ver¬ hängnisvollen Täuschung hin, daß Deutschland, wenn eS einsehen würde, daß Rußland entschlossen sei, es dieses Mal zum äußersten kommen zu lassen, seine Verbündeten im Stiche lassen und daß auf diese Weise Rußland mit der Triple- Entente einen diplomatischen Erfolg erringen werde, der zugleich eine Vergeltung für die diplomatische Niederlage in der böhmischen Frage im Jahre 1909 sein würde." Also eine Politik des Bluffs, eines Draufgängertums, das nur auf Einschüchterung berechnet ist und keine wirkliche Kraft hinter sich hat. Vor allem aber eine Politik, der der Ernst eines starken Verantwortungsgefühls abgeht. Sasonow erscheint somit als der Mann, der, wie man zu sagen pflegt, sich festgeblufft hat und aus der Sackgasse, in die er gerannt ist, nicht wieder heraus kann und infolgedessen in die Gewalt der Militärs und der Kriegspartei gerät. Welche Argumente bei den damit matzgebend gewordenen Persönlichkeiten durch¬ schlagend waren, erhellt aus den folgenden Sätzen der Pourtalesschen Broschüre: „Graf Fredericksz gab darauf zu verstehen, der Kriegsminister Suchomlinow und der Minister des Innern Maklakow hätten die Mobilmachungsorder durchgesetzt. Ersterer sei von der Angst vor Überraschungen beherrscht gewesen, während der letztere den Kaiser zu überzeugen verstanden habe, daß die innere Lage Rußlands auf eine Entscheidung dränge." Dieses Motiv der inneren Lage Rußlands ist auch in den Unterhaltungen Sasonows und Pourtales' zweimal angeschlagen. Unter dem 29. Juli heißt es: „Er fügte hinzu: .Keine Regierung würde eine andere Politik führen können, ohne die Dynastie in ernste Gefahr zu bringen/": unter dem 30. Juli: „Bemerkenswert erscheint es, daß Sasonow bei dieser Unter¬ redung zum zweiten Mal auf die Gefahren hinwies, die der russischen Dynastie erwachsen würden, wenn die Regierung Österreich-Ungarn gegenüber nicht fest¬ bleibe." Die alte Lehre der Geschichte, daß die innere Schwäche der Staaten die Hauptursache äußerer Kriege ist, findet sich bestätigt. > Was die tatsächlichen Vorgänge betrifft, so sind die Pourtalesschen Auf¬ zeichnungen besonders bedeutsam hinsichtlich dessen, was über die Entstehungs¬ geschichte der sogenannten Sasonowschen Formel gesagt ist. Diese Formel wird ja von der gesamten, den Standpunkt der Entente vertretenden Literatur als ein versöhnlicher Schritt Rußlands, als eine von Sasonow ausgestreckte Friedenshand hingestellt, die deutscherseits zurückgestoßen worden sei. Graf Pourtales schildert nun seine Audienz bei Sasonow am 30. Juli, in deren Verlauf die Unterhaltung wie an allen vorangegangenen Tagen infolge der Starrheit Sasonows wieder völlig auf den toten Punkt gekommen war. Graf Pourtales erklärte Sasonow, daß auf diese Weise Europa in den Krieg hineintreibe und fährt fort: „Mit bewegten Worten redete ich auf den Minister ein, indem ich ihm schilderte, wie fürchterlich dieser Krieg, dessen Umfang gar nicht abzusehen sei, werden würde. Es dürfe, erklärte ich, kein Mittel unversucht gelassen werden, um, wenn irgend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/184>, abgerufen am 29.05.2024.