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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Christentum und Sozialismus

lichen Entwicklung rückte. Nietzsches Einfluß hat den ablehnenden Standpunkt
gegenüber aller Metaphysik bei der Sozialdemokratie dann noch verstärkt. Dessen
Redensarten über den gestorbenen Gott, sein Spott über die Hinterweltlichen
haben nirgends so viel Eindruck gemacht wie in jenen Kreisen. Es gibt nur eine
einzige Wirklichkeit: die, die wir mit unsren Sinnen wahrnehmen. Sie versteht
sich aus sich selbst, aus den Kräften und Trieben, die ewig in ihr walten. Es
ist Rückständigkeit, eine überweltliche Ursache für sie und das Geschehen in ihr
zu fordern.

Trotzdem steckt auch in der sozialdemokratischen Weltanschauung als Erbe
aus dem idealistischen Zeitalter noch vieles, was eine Stimmung religiöser Art
hervorzurufen vermag. Es lebt als dumpfer Drang in den Massen und ist
tatsächlich dasjenige, was die sozialdemokratische Bewegung über eine bloße
Lohnbewegung erhebt.

Zuvörderst ist klar, daß auch die sozialdemokratische Weltanschauung auf
einem Glauben beruht; auf dem Glauben an einen stetigen Fortschritt der
Menschheit und an den endlichen Sieg des Guten. Karl Marx hat ihm, wie
man dort meint, die wissenschaftliche Unterlage gegeben. Der Drang, das Leben
zu fristen und es womöglich zu erhöhen, treibt die Menschen ständig nach vor¬
wärts, und im genauen Verhältnis dazu wandeln sich zugleich nicht nur die
Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch ihr ganzes Be-
wutztsein. Die Steigerung der Produktivkräfte bedeutet zwar für die Mehrzahl der
Menschen eins zunehmende Unterdrückung. Und doch führt der Weg nach auf¬
wärts. Denn selbst das, was man innerhalb dieser Betrachtungsweise das Böse
nennen möchte, selbst der Kapitalismus muß schließlich zum Besten wirken. Er
schafft die für die Höherhebung der Menschheit unentbehrlichen Produktionsformen,
er erteilte die Maschine, die die herrliche Aufgabe hat, die Menschen von der
niederdrückenden Last der Arbeit zu befreien, und er stellt als die über die
Grenzen der Völker und Staaten hinübergreifende, bis in den letzten Winkel der
Erde vordringende Vereinigung der Gewinnhungrigen, ohne es zu wollen, den Zu¬
sammenschluß der Menschheit zu einem Ganzen erst wirklich her. Aber gleichzeitig
ruft er selbst mit innerer Notwendigkeit die Gegenkräfte hervor, die über ihn
hinausführen und der unerträglich gewordenen Trennung der Mehrheit von den
Produktionsmitteln ein Ende machen. Wenn die Herrschaft des Kapitalismus
auf ihren Gipfel gelangt ist, wird die Masse der Ausgebeuteten sich gegen ihre
Peiniger erheben. Dann wird das wirkliche Recht siegen über das bloß ver¬
meintliche und der Menschheitsgedanke in seiner ganzen Größe und Reinheit erstrahlen.

Dieser mit der Kraft einer messianischen Hoffnung wirkende Glaube wird
auf den einzelnen übertragen dadurch, daß er innerhalb der großen sozialdemo¬
kratischen Bewegung in Reih und Glied mitmarschieren lernt. Jede Massenbewegung
wirkt schon durch die ihr als solcher eigene Wucht umbildend, begeisternd auf die von
ihr Erfaßten. Denn die Masse ist mehr als eine Summe von einzelnen und der
einzelne ist in ihr ein anderer, als wenn er auf sich gestellt ist. Der abgenutzte
Ausdruck "sich gehoben fühlen" sagt doch etwas vollkommen Richtiges. Ais Glied
der Gemeinschaft sieht der einzelne weiter, und er kann tatsächlich mehr denn
zuvor. Doppelt gilt das bei einer sich gedrückt fühlenden Schicht. In diesem
Falle legt sich der ganze Lebens- und Freiheitsdrang mit in das Massengefühl
hinein. Der Hoffnungslose wird stark und selbstbewußt, weil er die vereinigte
Kraft der andern als ihn selbst mittragend verspürt; er fühlt sich als Vollstrecker
eines Weltwillens, wenn ihm seine Not zugleich als die Not der ganzen Menschheit
gezeigt wird. Unwillkürlich geht dann die Empfindung ins Religiöse über. Nicht
er selbst ist es ja, der Will. Ein Mächtigeres ist es, das ihn fortreißt und dem
er doch freudig gehorcht. Etwas wie Andacht, wie ein heiliger Schauer über¬
kommt gerade den Einfachen, wenn er auf diesen Höhepunkt seines Selbst¬
bewußtseins gelangt ist.

Ist das nun Religion? Wenn man die Religion auf das bloße Gefühl der
Ehrfurcht oder auf die Überzeugung von dem schließlichen Sieg der guten Sache


Christentum und Sozialismus

lichen Entwicklung rückte. Nietzsches Einfluß hat den ablehnenden Standpunkt
gegenüber aller Metaphysik bei der Sozialdemokratie dann noch verstärkt. Dessen
Redensarten über den gestorbenen Gott, sein Spott über die Hinterweltlichen
haben nirgends so viel Eindruck gemacht wie in jenen Kreisen. Es gibt nur eine
einzige Wirklichkeit: die, die wir mit unsren Sinnen wahrnehmen. Sie versteht
sich aus sich selbst, aus den Kräften und Trieben, die ewig in ihr walten. Es
ist Rückständigkeit, eine überweltliche Ursache für sie und das Geschehen in ihr
zu fordern.

Trotzdem steckt auch in der sozialdemokratischen Weltanschauung als Erbe
aus dem idealistischen Zeitalter noch vieles, was eine Stimmung religiöser Art
hervorzurufen vermag. Es lebt als dumpfer Drang in den Massen und ist
tatsächlich dasjenige, was die sozialdemokratische Bewegung über eine bloße
Lohnbewegung erhebt.

Zuvörderst ist klar, daß auch die sozialdemokratische Weltanschauung auf
einem Glauben beruht; auf dem Glauben an einen stetigen Fortschritt der
Menschheit und an den endlichen Sieg des Guten. Karl Marx hat ihm, wie
man dort meint, die wissenschaftliche Unterlage gegeben. Der Drang, das Leben
zu fristen und es womöglich zu erhöhen, treibt die Menschen ständig nach vor¬
wärts, und im genauen Verhältnis dazu wandeln sich zugleich nicht nur die
Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch ihr ganzes Be-
wutztsein. Die Steigerung der Produktivkräfte bedeutet zwar für die Mehrzahl der
Menschen eins zunehmende Unterdrückung. Und doch führt der Weg nach auf¬
wärts. Denn selbst das, was man innerhalb dieser Betrachtungsweise das Böse
nennen möchte, selbst der Kapitalismus muß schließlich zum Besten wirken. Er
schafft die für die Höherhebung der Menschheit unentbehrlichen Produktionsformen,
er erteilte die Maschine, die die herrliche Aufgabe hat, die Menschen von der
niederdrückenden Last der Arbeit zu befreien, und er stellt als die über die
Grenzen der Völker und Staaten hinübergreifende, bis in den letzten Winkel der
Erde vordringende Vereinigung der Gewinnhungrigen, ohne es zu wollen, den Zu¬
sammenschluß der Menschheit zu einem Ganzen erst wirklich her. Aber gleichzeitig
ruft er selbst mit innerer Notwendigkeit die Gegenkräfte hervor, die über ihn
hinausführen und der unerträglich gewordenen Trennung der Mehrheit von den
Produktionsmitteln ein Ende machen. Wenn die Herrschaft des Kapitalismus
auf ihren Gipfel gelangt ist, wird die Masse der Ausgebeuteten sich gegen ihre
Peiniger erheben. Dann wird das wirkliche Recht siegen über das bloß ver¬
meintliche und der Menschheitsgedanke in seiner ganzen Größe und Reinheit erstrahlen.

Dieser mit der Kraft einer messianischen Hoffnung wirkende Glaube wird
auf den einzelnen übertragen dadurch, daß er innerhalb der großen sozialdemo¬
kratischen Bewegung in Reih und Glied mitmarschieren lernt. Jede Massenbewegung
wirkt schon durch die ihr als solcher eigene Wucht umbildend, begeisternd auf die von
ihr Erfaßten. Denn die Masse ist mehr als eine Summe von einzelnen und der
einzelne ist in ihr ein anderer, als wenn er auf sich gestellt ist. Der abgenutzte
Ausdruck „sich gehoben fühlen" sagt doch etwas vollkommen Richtiges. Ais Glied
der Gemeinschaft sieht der einzelne weiter, und er kann tatsächlich mehr denn
zuvor. Doppelt gilt das bei einer sich gedrückt fühlenden Schicht. In diesem
Falle legt sich der ganze Lebens- und Freiheitsdrang mit in das Massengefühl
hinein. Der Hoffnungslose wird stark und selbstbewußt, weil er die vereinigte
Kraft der andern als ihn selbst mittragend verspürt; er fühlt sich als Vollstrecker
eines Weltwillens, wenn ihm seine Not zugleich als die Not der ganzen Menschheit
gezeigt wird. Unwillkürlich geht dann die Empfindung ins Religiöse über. Nicht
er selbst ist es ja, der Will. Ein Mächtigeres ist es, das ihn fortreißt und dem
er doch freudig gehorcht. Etwas wie Andacht, wie ein heiliger Schauer über¬
kommt gerade den Einfachen, wenn er auf diesen Höhepunkt seines Selbst¬
bewußtseins gelangt ist.

Ist das nun Religion? Wenn man die Religion auf das bloße Gefühl der
Ehrfurcht oder auf die Überzeugung von dem schließlichen Sieg der guten Sache


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[0188] Christentum und Sozialismus lichen Entwicklung rückte. Nietzsches Einfluß hat den ablehnenden Standpunkt gegenüber aller Metaphysik bei der Sozialdemokratie dann noch verstärkt. Dessen Redensarten über den gestorbenen Gott, sein Spott über die Hinterweltlichen haben nirgends so viel Eindruck gemacht wie in jenen Kreisen. Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit: die, die wir mit unsren Sinnen wahrnehmen. Sie versteht sich aus sich selbst, aus den Kräften und Trieben, die ewig in ihr walten. Es ist Rückständigkeit, eine überweltliche Ursache für sie und das Geschehen in ihr zu fordern. Trotzdem steckt auch in der sozialdemokratischen Weltanschauung als Erbe aus dem idealistischen Zeitalter noch vieles, was eine Stimmung religiöser Art hervorzurufen vermag. Es lebt als dumpfer Drang in den Massen und ist tatsächlich dasjenige, was die sozialdemokratische Bewegung über eine bloße Lohnbewegung erhebt. Zuvörderst ist klar, daß auch die sozialdemokratische Weltanschauung auf einem Glauben beruht; auf dem Glauben an einen stetigen Fortschritt der Menschheit und an den endlichen Sieg des Guten. Karl Marx hat ihm, wie man dort meint, die wissenschaftliche Unterlage gegeben. Der Drang, das Leben zu fristen und es womöglich zu erhöhen, treibt die Menschen ständig nach vor¬ wärts, und im genauen Verhältnis dazu wandeln sich zugleich nicht nur die Formen ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch ihr ganzes Be- wutztsein. Die Steigerung der Produktivkräfte bedeutet zwar für die Mehrzahl der Menschen eins zunehmende Unterdrückung. Und doch führt der Weg nach auf¬ wärts. Denn selbst das, was man innerhalb dieser Betrachtungsweise das Böse nennen möchte, selbst der Kapitalismus muß schließlich zum Besten wirken. Er schafft die für die Höherhebung der Menschheit unentbehrlichen Produktionsformen, er erteilte die Maschine, die die herrliche Aufgabe hat, die Menschen von der niederdrückenden Last der Arbeit zu befreien, und er stellt als die über die Grenzen der Völker und Staaten hinübergreifende, bis in den letzten Winkel der Erde vordringende Vereinigung der Gewinnhungrigen, ohne es zu wollen, den Zu¬ sammenschluß der Menschheit zu einem Ganzen erst wirklich her. Aber gleichzeitig ruft er selbst mit innerer Notwendigkeit die Gegenkräfte hervor, die über ihn hinausführen und der unerträglich gewordenen Trennung der Mehrheit von den Produktionsmitteln ein Ende machen. Wenn die Herrschaft des Kapitalismus auf ihren Gipfel gelangt ist, wird die Masse der Ausgebeuteten sich gegen ihre Peiniger erheben. Dann wird das wirkliche Recht siegen über das bloß ver¬ meintliche und der Menschheitsgedanke in seiner ganzen Größe und Reinheit erstrahlen. Dieser mit der Kraft einer messianischen Hoffnung wirkende Glaube wird auf den einzelnen übertragen dadurch, daß er innerhalb der großen sozialdemo¬ kratischen Bewegung in Reih und Glied mitmarschieren lernt. Jede Massenbewegung wirkt schon durch die ihr als solcher eigene Wucht umbildend, begeisternd auf die von ihr Erfaßten. Denn die Masse ist mehr als eine Summe von einzelnen und der einzelne ist in ihr ein anderer, als wenn er auf sich gestellt ist. Der abgenutzte Ausdruck „sich gehoben fühlen" sagt doch etwas vollkommen Richtiges. Ais Glied der Gemeinschaft sieht der einzelne weiter, und er kann tatsächlich mehr denn zuvor. Doppelt gilt das bei einer sich gedrückt fühlenden Schicht. In diesem Falle legt sich der ganze Lebens- und Freiheitsdrang mit in das Massengefühl hinein. Der Hoffnungslose wird stark und selbstbewußt, weil er die vereinigte Kraft der andern als ihn selbst mittragend verspürt; er fühlt sich als Vollstrecker eines Weltwillens, wenn ihm seine Not zugleich als die Not der ganzen Menschheit gezeigt wird. Unwillkürlich geht dann die Empfindung ins Religiöse über. Nicht er selbst ist es ja, der Will. Ein Mächtigeres ist es, das ihn fortreißt und dem er doch freudig gehorcht. Etwas wie Andacht, wie ein heiliger Schauer über¬ kommt gerade den Einfachen, wenn er auf diesen Höhepunkt seines Selbst¬ bewußtseins gelangt ist. Ist das nun Religion? Wenn man die Religion auf das bloße Gefühl der Ehrfurcht oder auf die Überzeugung von dem schließlichen Sieg der guten Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/188>, abgerufen am 05.06.2024.