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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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eigenen Pläne im Mittelmeer geben ließ, konnte kein geistreiches Wort über die
Erlaubtheit von .Extratouren' darüber hinweghelfen, daß sich Italien trotz Fest¬
halten am Dreibund seine politische Bewegungsfreiheit vorbehielt.^)" Die Ver¬
ständigung der Mittelmeermächte England, Frankreich und Italien war auf der
Marokkokonferenz besiegelt worden, Italien hatte sein Ziel erreicht und der Mittel¬
meergegensatz zu Frankreich war trotz der Erinnerung an die Wegnahme von
Tunis bald verwischt. Visconti Venosta, der damalige Leiter der äußeren Politik
Italiens, war, um den Ruf nach Neuland und Machierweiterung zu beantworten,
mit Frankreich bindende Verpflichtungen eingegangen, die den Italienern als
Dank für die Unterstützung der französischen Marokkopolitik den Besitz von Tri¬
polis verbürgten.

Die dem wirtschaftlichen Fortschritt der großen Mächte angepaßten Schlag¬
worte: Weltmacht, Seegeltung, Weltpolitik fanden ausgerechnet bei den Italienern,
die kaum eine Vorbedingung dazu erfüllen konnten, den größten Widerhall. Nicht
nur die Presse und ein großer Teil der öffentlichen Meinung, sondern auch In¬
tellektuelle, Künstler und Dichter berauschten sich an dem imperialistischen Gedanken,
der, in die Tat umgesetzt, das größere Italien schaffen sollte.

Crispi hatte bekanntermaßen die irredentistische Agitation durchaus ver¬
worfen, aus praktisch-politischen Erwägungen heraus, da er in dem durch seine
Bemühungen zustande gekommenen Dreibund ein Element der Vorbeugung und
nicht der Herausforderung verkörpert wissen wollte. Nur so werden uns seine
scharfen Worte gegen die Jrredentapolitik Italiens ganz verständlich, die sich in
seinen "Memoiren" finden.

So kategorisch Crispi aus rein realpolitischer Erkenntnis die Ansicht verfocht,
daß die Jrredentisten eine Gefahr für Gegenwart und Zukunft der Nation bildeten,
so durchschlagend brach sich dennoch in seinem weitgespannten nationalpolitischen
Wollen der Gedanke der italienischen Weltmacht Bahn, Scudero belegt dies in
einer seiner politischen Publikationen^) mit Crispis eigenen Worten: "Heute festigt
sich Italien und schreitet voran. Hört die Stimmen, die sich in unseren Kolonien
erheben; sie jubilieren; Italien! tönt es vom Ufer des Mittelmeeres, und
schallt es von den fernsten Ozeanen zurück. Tausende von Kindern unseres und
fremden Stammes lernen heute in den verschiedensten Ländern, in den von uns
erneuerten Schulen, in unserer Sprache dies weltliche, arbeitsame und friedliche
Italien segnen, das die Sklawen befreit und die Glaubensbekenntnisse achtet.
Morgen, wenn sie Männer sind, werden sie ebenso viele Werkzeuge unseres
nationalen Reichtums sein. Wir müßten also größenwahnsinnig oder politisch
sehr kurzsichtig sein, aber auf diese Art es zu sein, würden uns weder Mazzini
noch Victor Emanuel noch Garibaldi noch Cavour gestatten; denn diese haben
nie daran gedacht, Italien zur politischen Unfruchtbarkeit zu verdammen. Nur
wenn wir uns an ihrer Größe begeistern, können wir erreichen, daß der italienische
Bürger wieder den anderen Völkern sein ,Liois romanus sum' entgegenrufen
kann." Crispi übersieht, wie alle späteren Propheten des italienischen Imperialis¬
mus, daß Italien das, was es bisher geworden war, großenteils der ihm be¬
sonders günstigen Mächtegruppierung Europas zu verdanken hatte, daß das
italienische Volk und der italienische Staat im Innern noch viel zu unfertig
waren, um im großen Welttheater anzutun.

Hinzu kommt noch der Umstand, daß seit der Wende des Jahrhunderts die
italienische Agitation für eine expansive Balkanpolitik an Raum gewann. Eine
Festsetzung Italiens auf dem Balkan konnte nur an der Ostküste der Adria in
Albanien erfolgen. Daher die Bestrebungen, das albanische Gebiet wirtschaftlich
und kulturell mit italienischem Einfluß zu durchdringen. Trotz des im Jahre
1897 erzielten Abkommens, das die unverletzliche Autonomie Albaniens verbriefte,
ließ die italienische Presse keinen Zweifel darüber, daß man bei sich bietender




Ludo Hartmann, "Hundert Jahre italienische Geschichte." S. 198/99.
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Scudero, "l.s politica cheers etIwlia, Catania 1912. S. 148.
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eigenen Pläne im Mittelmeer geben ließ, konnte kein geistreiches Wort über die
Erlaubtheit von .Extratouren' darüber hinweghelfen, daß sich Italien trotz Fest¬
halten am Dreibund seine politische Bewegungsfreiheit vorbehielt.^)" Die Ver¬
ständigung der Mittelmeermächte England, Frankreich und Italien war auf der
Marokkokonferenz besiegelt worden, Italien hatte sein Ziel erreicht und der Mittel¬
meergegensatz zu Frankreich war trotz der Erinnerung an die Wegnahme von
Tunis bald verwischt. Visconti Venosta, der damalige Leiter der äußeren Politik
Italiens, war, um den Ruf nach Neuland und Machierweiterung zu beantworten,
mit Frankreich bindende Verpflichtungen eingegangen, die den Italienern als
Dank für die Unterstützung der französischen Marokkopolitik den Besitz von Tri¬
polis verbürgten.

Die dem wirtschaftlichen Fortschritt der großen Mächte angepaßten Schlag¬
worte: Weltmacht, Seegeltung, Weltpolitik fanden ausgerechnet bei den Italienern,
die kaum eine Vorbedingung dazu erfüllen konnten, den größten Widerhall. Nicht
nur die Presse und ein großer Teil der öffentlichen Meinung, sondern auch In¬
tellektuelle, Künstler und Dichter berauschten sich an dem imperialistischen Gedanken,
der, in die Tat umgesetzt, das größere Italien schaffen sollte.

Crispi hatte bekanntermaßen die irredentistische Agitation durchaus ver¬
worfen, aus praktisch-politischen Erwägungen heraus, da er in dem durch seine
Bemühungen zustande gekommenen Dreibund ein Element der Vorbeugung und
nicht der Herausforderung verkörpert wissen wollte. Nur so werden uns seine
scharfen Worte gegen die Jrredentapolitik Italiens ganz verständlich, die sich in
seinen „Memoiren" finden.

So kategorisch Crispi aus rein realpolitischer Erkenntnis die Ansicht verfocht,
daß die Jrredentisten eine Gefahr für Gegenwart und Zukunft der Nation bildeten,
so durchschlagend brach sich dennoch in seinem weitgespannten nationalpolitischen
Wollen der Gedanke der italienischen Weltmacht Bahn, Scudero belegt dies in
einer seiner politischen Publikationen^) mit Crispis eigenen Worten: „Heute festigt
sich Italien und schreitet voran. Hört die Stimmen, die sich in unseren Kolonien
erheben; sie jubilieren; Italien! tönt es vom Ufer des Mittelmeeres, und
schallt es von den fernsten Ozeanen zurück. Tausende von Kindern unseres und
fremden Stammes lernen heute in den verschiedensten Ländern, in den von uns
erneuerten Schulen, in unserer Sprache dies weltliche, arbeitsame und friedliche
Italien segnen, das die Sklawen befreit und die Glaubensbekenntnisse achtet.
Morgen, wenn sie Männer sind, werden sie ebenso viele Werkzeuge unseres
nationalen Reichtums sein. Wir müßten also größenwahnsinnig oder politisch
sehr kurzsichtig sein, aber auf diese Art es zu sein, würden uns weder Mazzini
noch Victor Emanuel noch Garibaldi noch Cavour gestatten; denn diese haben
nie daran gedacht, Italien zur politischen Unfruchtbarkeit zu verdammen. Nur
wenn wir uns an ihrer Größe begeistern, können wir erreichen, daß der italienische
Bürger wieder den anderen Völkern sein ,Liois romanus sum' entgegenrufen
kann." Crispi übersieht, wie alle späteren Propheten des italienischen Imperialis¬
mus, daß Italien das, was es bisher geworden war, großenteils der ihm be¬
sonders günstigen Mächtegruppierung Europas zu verdanken hatte, daß das
italienische Volk und der italienische Staat im Innern noch viel zu unfertig
waren, um im großen Welttheater anzutun.

Hinzu kommt noch der Umstand, daß seit der Wende des Jahrhunderts die
italienische Agitation für eine expansive Balkanpolitik an Raum gewann. Eine
Festsetzung Italiens auf dem Balkan konnte nur an der Ostküste der Adria in
Albanien erfolgen. Daher die Bestrebungen, das albanische Gebiet wirtschaftlich
und kulturell mit italienischem Einfluß zu durchdringen. Trotz des im Jahre
1897 erzielten Abkommens, das die unverletzliche Autonomie Albaniens verbriefte,
ließ die italienische Presse keinen Zweifel darüber, daß man bei sich bietender




Ludo Hartmann, „Hundert Jahre italienische Geschichte." S. 198/99.
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Scudero, „l.s politica cheers etIwlia, Catania 1912. S. 148.
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[0078] «Lrisxi und der Gedanke des Größeren Italien eigenen Pläne im Mittelmeer geben ließ, konnte kein geistreiches Wort über die Erlaubtheit von .Extratouren' darüber hinweghelfen, daß sich Italien trotz Fest¬ halten am Dreibund seine politische Bewegungsfreiheit vorbehielt.^)" Die Ver¬ ständigung der Mittelmeermächte England, Frankreich und Italien war auf der Marokkokonferenz besiegelt worden, Italien hatte sein Ziel erreicht und der Mittel¬ meergegensatz zu Frankreich war trotz der Erinnerung an die Wegnahme von Tunis bald verwischt. Visconti Venosta, der damalige Leiter der äußeren Politik Italiens, war, um den Ruf nach Neuland und Machierweiterung zu beantworten, mit Frankreich bindende Verpflichtungen eingegangen, die den Italienern als Dank für die Unterstützung der französischen Marokkopolitik den Besitz von Tri¬ polis verbürgten. Die dem wirtschaftlichen Fortschritt der großen Mächte angepaßten Schlag¬ worte: Weltmacht, Seegeltung, Weltpolitik fanden ausgerechnet bei den Italienern, die kaum eine Vorbedingung dazu erfüllen konnten, den größten Widerhall. Nicht nur die Presse und ein großer Teil der öffentlichen Meinung, sondern auch In¬ tellektuelle, Künstler und Dichter berauschten sich an dem imperialistischen Gedanken, der, in die Tat umgesetzt, das größere Italien schaffen sollte. Crispi hatte bekanntermaßen die irredentistische Agitation durchaus ver¬ worfen, aus praktisch-politischen Erwägungen heraus, da er in dem durch seine Bemühungen zustande gekommenen Dreibund ein Element der Vorbeugung und nicht der Herausforderung verkörpert wissen wollte. Nur so werden uns seine scharfen Worte gegen die Jrredentapolitik Italiens ganz verständlich, die sich in seinen „Memoiren" finden. So kategorisch Crispi aus rein realpolitischer Erkenntnis die Ansicht verfocht, daß die Jrredentisten eine Gefahr für Gegenwart und Zukunft der Nation bildeten, so durchschlagend brach sich dennoch in seinem weitgespannten nationalpolitischen Wollen der Gedanke der italienischen Weltmacht Bahn, Scudero belegt dies in einer seiner politischen Publikationen^) mit Crispis eigenen Worten: „Heute festigt sich Italien und schreitet voran. Hört die Stimmen, die sich in unseren Kolonien erheben; sie jubilieren; Italien! tönt es vom Ufer des Mittelmeeres, und schallt es von den fernsten Ozeanen zurück. Tausende von Kindern unseres und fremden Stammes lernen heute in den verschiedensten Ländern, in den von uns erneuerten Schulen, in unserer Sprache dies weltliche, arbeitsame und friedliche Italien segnen, das die Sklawen befreit und die Glaubensbekenntnisse achtet. Morgen, wenn sie Männer sind, werden sie ebenso viele Werkzeuge unseres nationalen Reichtums sein. Wir müßten also größenwahnsinnig oder politisch sehr kurzsichtig sein, aber auf diese Art es zu sein, würden uns weder Mazzini noch Victor Emanuel noch Garibaldi noch Cavour gestatten; denn diese haben nie daran gedacht, Italien zur politischen Unfruchtbarkeit zu verdammen. Nur wenn wir uns an ihrer Größe begeistern, können wir erreichen, daß der italienische Bürger wieder den anderen Völkern sein ,Liois romanus sum' entgegenrufen kann." Crispi übersieht, wie alle späteren Propheten des italienischen Imperialis¬ mus, daß Italien das, was es bisher geworden war, großenteils der ihm be¬ sonders günstigen Mächtegruppierung Europas zu verdanken hatte, daß das italienische Volk und der italienische Staat im Innern noch viel zu unfertig waren, um im großen Welttheater anzutun. Hinzu kommt noch der Umstand, daß seit der Wende des Jahrhunderts die italienische Agitation für eine expansive Balkanpolitik an Raum gewann. Eine Festsetzung Italiens auf dem Balkan konnte nur an der Ostküste der Adria in Albanien erfolgen. Daher die Bestrebungen, das albanische Gebiet wirtschaftlich und kulturell mit italienischem Einfluß zu durchdringen. Trotz des im Jahre 1897 erzielten Abkommens, das die unverletzliche Autonomie Albaniens verbriefte, ließ die italienische Presse keinen Zweifel darüber, daß man bei sich bietender Ludo Hartmann, „Hundert Jahre italienische Geschichte." S. 198/99. '" Scudero, „l.s politica cheers etIwlia, Catania 1912. S. 148.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/78>, abgerufen am 31.10.2024.