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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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am 31,. März ablief, gekündigt, Forderungen
für einen neuen Vertrag aufgestellt und Ver¬
handlungen verlangt. Die Grubenverwal-
tungcn lehnten diese Forderungen ab. Sie
wollten sich nicht nur nicht auf Lohn¬
erhöhungen einlassen, sondern wollte" über¬
haupt keinen Tarifvertrag mehr. In der
Hüttenindustrie herrschen traurige Verhältnisse.
Auf den meisten Werken mußten Feierschichten
eingelegt, im Erzgebiet sogar eine ganze
Anzahl Hochöfen stillgelegt werden. Der von
den Verwaltungen als Grund angegebene
Kohlen- und KokZmangel ist nur die un¬
mittelbare Ursache der Einschränkungen. Die
eigentlichen Gründe liegen tiefer. Sie sind
in der Unfähigkeit der neuen, aus Frankreich
gekommenen Direktoren und Beamten zu
suchen, die die einst blühenden Betriebe binnen
Jahresfrist völlig heruntergewirtschaftet haben.
In dem von Herrn Mirman, dem früheren
Präfekten von Lothringen, am 25. September
Persönlich aufgenommenen Protokoll war den
Streitenden zugesichert worden, daß die An¬
gestellten für ihre Tätigkeit befähigt sein, daß
sie beide Sprachen beherrschen und daß die
Elsässer und Lothringer bei Neueinstellungen
den Vorzug erhallen sollten. Diese Ver¬
sprechungen sind von den Direktionen der
Werke und Gruben nicht gehalten worden.
Immer mehr Landfremde drangen durch
den tief eingerissenen Mißbrauch persönlicher
Beziehungen in die besten Stellungen ein.
Hier verknüpft sich das wirtschaftliche Motiv
mit dem Politischen, und hierin ist die letzte
Ursache des jetzt ausgsbrochenen Streiks zu
erblicken. Auf die Spitze getriebene franzö¬
sische Unbekümmertheit um die Ansprüche der
Einheimischen auf dem früheren Thysscnschen
Stahlwerk in Hagendingen bot den äußeren
Anlaß. Die Verwaltung entließ 254 Ar-
beiter, zum größten Teil Einheimische,
darunter den elsässischen Direktor Werner
und den bei den Arbeitern beliebten loth¬
ringischen Ingenieur Wilhelm, und forderte
sie auf, sofort die Wohnungen zu räumen.
Als Grund gab die Firma an, daß sie den
Betrieb einschränken müsse. Dazu paßt es
allerdings schlecht, daß etwa 300 Arbeiter
mit verschiedenen Arbeiten im Werk be¬
schäftigt werden, obwohl sie dem Betrieb
Mr nicht angehören. Die Beamten, Ange¬

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stellten und Arbeiter erklärten sich mit den
Entlassener solidarisch und legten die Arbeit
nieder. Am 1. April wurde der General¬
streik für die Hüttenbetriebe und Gruben
ganz Lothringens erklärt. Der Parole wurde
überall Folge geleistet, die Zahl der Streik¬
brecher ist gering, ausgenommen die der
Wendelschen Anlagen, wo die Forderungen
der Arbeiter Entgegenkommen fanden. Mi߬
lich ist die Lage der noch zahlreich im Lande
verbliebenen deutschen Arbeiter, die verhaftet
und wegen "revolutionärer Umtriebe" aus¬
gewiesen werden, wenn sie sich am Streik
beteiligen, im andern Falle als Streikbrecher
unter der Feindseligkeit ihrer einheimischen
Kameraden zu leiden haben. Mit den allem
Zureden sich verschließenden Vertretern des
Kapitals verbündet sich das Militär, daS ^
zum Schutz der nirgends gestörten Ruhe und
Ordnung auf die Werke gezogen wurde und
der Bevölkerung in einer Weise gegenübcr-
trat, wie sie der Elsaß-Lothringer von seinen
französischen Landsleuten sicher nicht erwartet
hatte. Die Zeitungen sind voll von Be¬
richten über Beschimpfungen, Mißhandlungen,
Übergriffe und willkürliche Verhaftungen, und
zwar nicht nnr etwa die sozialistische Dieden-
hofener "Volkstribüne" und das radikale
"Metzer Freie Journal", sondern auch die
katholische "Lothringer VÄkszeitung". Daß
die in französischer Sprache erscheinenden
Zeitungen in dem Streik wie bei allem Un¬
angenehmen ein "mouvemönt booko" sehe",
ist nicht weiter verwunderlich, sind sie doch
so regierungsfromm, daß sie, um ein Wort des
"Metzer Freien Journals" zu gebrauchen, auf
einen Wink der Negierung von strahlendem
Sonnenschein reden würden, wenn ein Platz¬
regen niederginge. Ubbo Hackspill aber, der
Direktor der "Volkszeitung", stellt sich Wie im
September, als wegen der Behandlung der
Elsüsser und Lothringer der Eisenbahnerstreik
ausgebrochen war.auf die Seite der Streitenden
und erschien am 9. April in Hagendingen in
einer ihrer Versammlungen. Zwei Tage
vorher hatte eine Kavallerieabteilung die nach
einer Versammlung ruhig auseinandergehende
Menge auseinandergesprengt und mehrere
Personen verletzt. Das brutale Auftreten
des Militärs bestärkt die Arbeiter in ihrer
Haltung, und die mehrmonatigen Gefängnis-

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am 31,. März ablief, gekündigt, Forderungen
für einen neuen Vertrag aufgestellt und Ver¬
handlungen verlangt. Die Grubenverwal-
tungcn lehnten diese Forderungen ab. Sie
wollten sich nicht nur nicht auf Lohn¬
erhöhungen einlassen, sondern wollte» über¬
haupt keinen Tarifvertrag mehr. In der
Hüttenindustrie herrschen traurige Verhältnisse.
Auf den meisten Werken mußten Feierschichten
eingelegt, im Erzgebiet sogar eine ganze
Anzahl Hochöfen stillgelegt werden. Der von
den Verwaltungen als Grund angegebene
Kohlen- und KokZmangel ist nur die un¬
mittelbare Ursache der Einschränkungen. Die
eigentlichen Gründe liegen tiefer. Sie sind
in der Unfähigkeit der neuen, aus Frankreich
gekommenen Direktoren und Beamten zu
suchen, die die einst blühenden Betriebe binnen
Jahresfrist völlig heruntergewirtschaftet haben.
In dem von Herrn Mirman, dem früheren
Präfekten von Lothringen, am 25. September
Persönlich aufgenommenen Protokoll war den
Streitenden zugesichert worden, daß die An¬
gestellten für ihre Tätigkeit befähigt sein, daß
sie beide Sprachen beherrschen und daß die
Elsässer und Lothringer bei Neueinstellungen
den Vorzug erhallen sollten. Diese Ver¬
sprechungen sind von den Direktionen der
Werke und Gruben nicht gehalten worden.
Immer mehr Landfremde drangen durch
den tief eingerissenen Mißbrauch persönlicher
Beziehungen in die besten Stellungen ein.
Hier verknüpft sich das wirtschaftliche Motiv
mit dem Politischen, und hierin ist die letzte
Ursache des jetzt ausgsbrochenen Streiks zu
erblicken. Auf die Spitze getriebene franzö¬
sische Unbekümmertheit um die Ansprüche der
Einheimischen auf dem früheren Thysscnschen
Stahlwerk in Hagendingen bot den äußeren
Anlaß. Die Verwaltung entließ 254 Ar-
beiter, zum größten Teil Einheimische,
darunter den elsässischen Direktor Werner
und den bei den Arbeitern beliebten loth¬
ringischen Ingenieur Wilhelm, und forderte
sie auf, sofort die Wohnungen zu räumen.
Als Grund gab die Firma an, daß sie den
Betrieb einschränken müsse. Dazu paßt es
allerdings schlecht, daß etwa 300 Arbeiter
mit verschiedenen Arbeiten im Werk be¬
schäftigt werden, obwohl sie dem Betrieb
Mr nicht angehören. Die Beamten, Ange¬

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stellten und Arbeiter erklärten sich mit den
Entlassener solidarisch und legten die Arbeit
nieder. Am 1. April wurde der General¬
streik für die Hüttenbetriebe und Gruben
ganz Lothringens erklärt. Der Parole wurde
überall Folge geleistet, die Zahl der Streik¬
brecher ist gering, ausgenommen die der
Wendelschen Anlagen, wo die Forderungen
der Arbeiter Entgegenkommen fanden. Mi߬
lich ist die Lage der noch zahlreich im Lande
verbliebenen deutschen Arbeiter, die verhaftet
und wegen „revolutionärer Umtriebe" aus¬
gewiesen werden, wenn sie sich am Streik
beteiligen, im andern Falle als Streikbrecher
unter der Feindseligkeit ihrer einheimischen
Kameraden zu leiden haben. Mit den allem
Zureden sich verschließenden Vertretern des
Kapitals verbündet sich das Militär, daS ^
zum Schutz der nirgends gestörten Ruhe und
Ordnung auf die Werke gezogen wurde und
der Bevölkerung in einer Weise gegenübcr-
trat, wie sie der Elsaß-Lothringer von seinen
französischen Landsleuten sicher nicht erwartet
hatte. Die Zeitungen sind voll von Be¬
richten über Beschimpfungen, Mißhandlungen,
Übergriffe und willkürliche Verhaftungen, und
zwar nicht nnr etwa die sozialistische Dieden-
hofener „Volkstribüne" und das radikale
„Metzer Freie Journal", sondern auch die
katholische „Lothringer VÄkszeitung". Daß
die in französischer Sprache erscheinenden
Zeitungen in dem Streik wie bei allem Un¬
angenehmen ein „mouvemönt booko" sehe»,
ist nicht weiter verwunderlich, sind sie doch
so regierungsfromm, daß sie, um ein Wort des
„Metzer Freien Journals" zu gebrauchen, auf
einen Wink der Negierung von strahlendem
Sonnenschein reden würden, wenn ein Platz¬
regen niederginge. Ubbo Hackspill aber, der
Direktor der „Volkszeitung", stellt sich Wie im
September, als wegen der Behandlung der
Elsüsser und Lothringer der Eisenbahnerstreik
ausgebrochen war.auf die Seite der Streitenden
und erschien am 9. April in Hagendingen in
einer ihrer Versammlungen. Zwei Tage
vorher hatte eine Kavallerieabteilung die nach
einer Versammlung ruhig auseinandergehende
Menge auseinandergesprengt und mehrere
Personen verletzt. Das brutale Auftreten
des Militärs bestärkt die Arbeiter in ihrer
Haltung, und die mehrmonatigen Gefängnis-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/180>, abgerufen am 17.06.2024.