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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr.

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Weltspiegel

Programm: Revision des Versailler Vertrages, Einstellung aller Feindseligkeiten
gegen die deutsche sozialistische Emanzipation (womit im wesentlichen die rote
Ruhraktion gemeint ist), Abrüstung der Nationen, völlige Gleichstellung von
Männern und Frauen vor dem Gesetz (Frauenwahlrecht), volle Amnestie für
Militärverbrechen, auch für die Meuterer von 1917 und vom Frühjahr 1919 im
Schwarzen Meer, Sozialisierung der Eisenbahnen, Bergwerke, Wasserkräfte usw.
Der Landesverband der Eisenbahner dagegen stellt in die vorderste Linie die Forde¬
rung nach Nationalisierung der Eisenbahnen. Was unter Nationalisierung der
Eisenbahnen zu verstehen und wie weit und in welcher Weise diese durchzuführen
ist, das hat in Frankreich bis heute noch kein Mensch klar festzustellen vermocht.
Die C. G. T. hat allerdings einschlägige Broschüren verbreitet, die aber selbst
bei den Sozialisten nur geteilte Aufnahme gefunden haben und in sehr wesent¬
lichen Punkten, zum Beispiel dem der Entschädigung der Privatinteressen sehr
unbestimmt gehalten siud. Anderseits hat auch die Regierung ein entsprechendes
Projekt ausarbeiten lassen, das aber die C. G. T., sei es aus Autorenchrgeiz, sei es
aus Besorgnis überrumpelt zu werden, bisher noch nicht einmal hat prüfen
wollen. Jedenfalls beweist diese Vielfältigkeit der Programme, daß es der ganzen
Bewegung in hohem Maße an Einheitlichkeit fehlt, eine Beobachtung, die man
bestätigt findet, wenn man den Verlauf des Streiks im Auge faßt. Es zeigt sich
hier ein ähnliches Bild wie bei dem Eisenbahnerflreik im Februar. Einzelne
radikale Elemente, die die Bewegung vom Zaune brachen, eine Bewegung die
scheitert, eine Zentralleitung, die diese bereits abflauende Bewegung, aus Furcht,-aus
dem nächsten Kongreß überstimmt und verdrängt zu werden, unterstützt, Sympathie¬
streiks, Verhandlungen mit der Regierung, die auf Kompromisse hinauskommen,
über deren Auslegung man sich dann bis zum nächsten Streik hin- und herstreitet.
Es zeigt sich ferner, daß man in Frankreich trotz aller Sowjetlehren noch nicht die
leiseste Ahnung davon hat, wie eigentlich eine Revolution einheitlich organisiert
wird. Ganz abgesehen davon, daß sich die Eisenbahner nicht einmal die Zeit
genommen haben, die Verpflegung der Städte zu sichern und die Tätigkeit der
"Technischen Nothilfe", die seit dem Januar in Frankreich so gut gebildet ist wie
bei uns, lahmzulegen, die offenen und heimlichen Führer scheinen nicht einmal
über einen sicheren, von Post und Zeitung unabhängigen Nachrichtendienst zu
verfügen und daher nicht imstande zu sein, weder zu wissen, wie weit Streikbcfehle
usw. wirklich befolgt werden, noch Befehle und Anordnungen prompt weiter¬
zugehen. Damit ist die ganze Bewegung natürlich von vornherein zum Scheitern
verurteilt, auch wenn die Negierung nicht so überaus vorsichtig und geschickt, unter
möglichster Vermeidung aller Provokationen vorginge.

Der Plan der C. G. T. ist offensichtlich darauf ausgegangen, Negierung
und Bürgertum zu schwächen. Sie versuchte demnach, auf einen Schlag Handel
und Wandel im Lande zu lähmen, dies aber (echt französisch I) unter möglichster
Schonung der Streikkassen. So schlössen sich dem nur sehr teilweise durchgeführten
Eisenbahnerstreik zunächst die Transport- und Bauarbeiter an, dann erst Metall-
und Bergarbeiter. Der Streik der Bergarbeiter ist dabei natürlich ausschlaggebend,
doch haben die Eisenbahngesellschaften vorgesorgt und unter Kohlenmangel scheint
der Betrieb der Eisenbahnen vorderhand nicht leiden zu müssen. Wie unsicher
die Eisenbahner selbst sich fühlen, geht aus ihrer am siebenten geäußerten Bereit¬
willigkeit hervor, die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn die Regierung sich bereit
erklärt, eine aus Arbeitern, Technikern, Industriellen, Konsumenten und Produzenten
(schon die Unklarheit dieser Fixierung spricht Bände!) zusammengesetzte Kom¬
mission zur Prüfung des Nationalisierungsproblems einzusetzen.

Im Grunde geht der ganze Streit nicht um Nationalisierung oder Soziali¬
sierung, noch um Amnestie oder den Achtstundentag (der in Frankreich noch immer
heftig angefochten wird), sondern darum, ob die Negierung oder die sozialistischen
Führer die Macht über die Arbeitermassen bekommen. Die Regierung ist alles
andere als reaktionär. Sie hat zwar ihre (sachlich keineswegs ganz ungerecht¬
fertigten) Zweifel über die Wirksamkeit der Steuergesetze "gegen" Kriegsgewinnler


Weltspiegel

Programm: Revision des Versailler Vertrages, Einstellung aller Feindseligkeiten
gegen die deutsche sozialistische Emanzipation (womit im wesentlichen die rote
Ruhraktion gemeint ist), Abrüstung der Nationen, völlige Gleichstellung von
Männern und Frauen vor dem Gesetz (Frauenwahlrecht), volle Amnestie für
Militärverbrechen, auch für die Meuterer von 1917 und vom Frühjahr 1919 im
Schwarzen Meer, Sozialisierung der Eisenbahnen, Bergwerke, Wasserkräfte usw.
Der Landesverband der Eisenbahner dagegen stellt in die vorderste Linie die Forde¬
rung nach Nationalisierung der Eisenbahnen. Was unter Nationalisierung der
Eisenbahnen zu verstehen und wie weit und in welcher Weise diese durchzuführen
ist, das hat in Frankreich bis heute noch kein Mensch klar festzustellen vermocht.
Die C. G. T. hat allerdings einschlägige Broschüren verbreitet, die aber selbst
bei den Sozialisten nur geteilte Aufnahme gefunden haben und in sehr wesent¬
lichen Punkten, zum Beispiel dem der Entschädigung der Privatinteressen sehr
unbestimmt gehalten siud. Anderseits hat auch die Regierung ein entsprechendes
Projekt ausarbeiten lassen, das aber die C. G. T., sei es aus Autorenchrgeiz, sei es
aus Besorgnis überrumpelt zu werden, bisher noch nicht einmal hat prüfen
wollen. Jedenfalls beweist diese Vielfältigkeit der Programme, daß es der ganzen
Bewegung in hohem Maße an Einheitlichkeit fehlt, eine Beobachtung, die man
bestätigt findet, wenn man den Verlauf des Streiks im Auge faßt. Es zeigt sich
hier ein ähnliches Bild wie bei dem Eisenbahnerflreik im Februar. Einzelne
radikale Elemente, die die Bewegung vom Zaune brachen, eine Bewegung die
scheitert, eine Zentralleitung, die diese bereits abflauende Bewegung, aus Furcht,-aus
dem nächsten Kongreß überstimmt und verdrängt zu werden, unterstützt, Sympathie¬
streiks, Verhandlungen mit der Regierung, die auf Kompromisse hinauskommen,
über deren Auslegung man sich dann bis zum nächsten Streik hin- und herstreitet.
Es zeigt sich ferner, daß man in Frankreich trotz aller Sowjetlehren noch nicht die
leiseste Ahnung davon hat, wie eigentlich eine Revolution einheitlich organisiert
wird. Ganz abgesehen davon, daß sich die Eisenbahner nicht einmal die Zeit
genommen haben, die Verpflegung der Städte zu sichern und die Tätigkeit der
„Technischen Nothilfe", die seit dem Januar in Frankreich so gut gebildet ist wie
bei uns, lahmzulegen, die offenen und heimlichen Führer scheinen nicht einmal
über einen sicheren, von Post und Zeitung unabhängigen Nachrichtendienst zu
verfügen und daher nicht imstande zu sein, weder zu wissen, wie weit Streikbcfehle
usw. wirklich befolgt werden, noch Befehle und Anordnungen prompt weiter¬
zugehen. Damit ist die ganze Bewegung natürlich von vornherein zum Scheitern
verurteilt, auch wenn die Negierung nicht so überaus vorsichtig und geschickt, unter
möglichster Vermeidung aller Provokationen vorginge.

Der Plan der C. G. T. ist offensichtlich darauf ausgegangen, Negierung
und Bürgertum zu schwächen. Sie versuchte demnach, auf einen Schlag Handel
und Wandel im Lande zu lähmen, dies aber (echt französisch I) unter möglichster
Schonung der Streikkassen. So schlössen sich dem nur sehr teilweise durchgeführten
Eisenbahnerstreik zunächst die Transport- und Bauarbeiter an, dann erst Metall-
und Bergarbeiter. Der Streik der Bergarbeiter ist dabei natürlich ausschlaggebend,
doch haben die Eisenbahngesellschaften vorgesorgt und unter Kohlenmangel scheint
der Betrieb der Eisenbahnen vorderhand nicht leiden zu müssen. Wie unsicher
die Eisenbahner selbst sich fühlen, geht aus ihrer am siebenten geäußerten Bereit¬
willigkeit hervor, die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn die Regierung sich bereit
erklärt, eine aus Arbeitern, Technikern, Industriellen, Konsumenten und Produzenten
(schon die Unklarheit dieser Fixierung spricht Bände!) zusammengesetzte Kom¬
mission zur Prüfung des Nationalisierungsproblems einzusetzen.

Im Grunde geht der ganze Streit nicht um Nationalisierung oder Soziali¬
sierung, noch um Amnestie oder den Achtstundentag (der in Frankreich noch immer
heftig angefochten wird), sondern darum, ob die Negierung oder die sozialistischen
Führer die Macht über die Arbeitermassen bekommen. Die Regierung ist alles
andere als reaktionär. Sie hat zwar ihre (sachlich keineswegs ganz ungerecht¬
fertigten) Zweifel über die Wirksamkeit der Steuergesetze „gegen" Kriegsgewinnler


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[0204] Weltspiegel Programm: Revision des Versailler Vertrages, Einstellung aller Feindseligkeiten gegen die deutsche sozialistische Emanzipation (womit im wesentlichen die rote Ruhraktion gemeint ist), Abrüstung der Nationen, völlige Gleichstellung von Männern und Frauen vor dem Gesetz (Frauenwahlrecht), volle Amnestie für Militärverbrechen, auch für die Meuterer von 1917 und vom Frühjahr 1919 im Schwarzen Meer, Sozialisierung der Eisenbahnen, Bergwerke, Wasserkräfte usw. Der Landesverband der Eisenbahner dagegen stellt in die vorderste Linie die Forde¬ rung nach Nationalisierung der Eisenbahnen. Was unter Nationalisierung der Eisenbahnen zu verstehen und wie weit und in welcher Weise diese durchzuführen ist, das hat in Frankreich bis heute noch kein Mensch klar festzustellen vermocht. Die C. G. T. hat allerdings einschlägige Broschüren verbreitet, die aber selbst bei den Sozialisten nur geteilte Aufnahme gefunden haben und in sehr wesent¬ lichen Punkten, zum Beispiel dem der Entschädigung der Privatinteressen sehr unbestimmt gehalten siud. Anderseits hat auch die Regierung ein entsprechendes Projekt ausarbeiten lassen, das aber die C. G. T., sei es aus Autorenchrgeiz, sei es aus Besorgnis überrumpelt zu werden, bisher noch nicht einmal hat prüfen wollen. Jedenfalls beweist diese Vielfältigkeit der Programme, daß es der ganzen Bewegung in hohem Maße an Einheitlichkeit fehlt, eine Beobachtung, die man bestätigt findet, wenn man den Verlauf des Streiks im Auge faßt. Es zeigt sich hier ein ähnliches Bild wie bei dem Eisenbahnerflreik im Februar. Einzelne radikale Elemente, die die Bewegung vom Zaune brachen, eine Bewegung die scheitert, eine Zentralleitung, die diese bereits abflauende Bewegung, aus Furcht,-aus dem nächsten Kongreß überstimmt und verdrängt zu werden, unterstützt, Sympathie¬ streiks, Verhandlungen mit der Regierung, die auf Kompromisse hinauskommen, über deren Auslegung man sich dann bis zum nächsten Streik hin- und herstreitet. Es zeigt sich ferner, daß man in Frankreich trotz aller Sowjetlehren noch nicht die leiseste Ahnung davon hat, wie eigentlich eine Revolution einheitlich organisiert wird. Ganz abgesehen davon, daß sich die Eisenbahner nicht einmal die Zeit genommen haben, die Verpflegung der Städte zu sichern und die Tätigkeit der „Technischen Nothilfe", die seit dem Januar in Frankreich so gut gebildet ist wie bei uns, lahmzulegen, die offenen und heimlichen Führer scheinen nicht einmal über einen sicheren, von Post und Zeitung unabhängigen Nachrichtendienst zu verfügen und daher nicht imstande zu sein, weder zu wissen, wie weit Streikbcfehle usw. wirklich befolgt werden, noch Befehle und Anordnungen prompt weiter¬ zugehen. Damit ist die ganze Bewegung natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt, auch wenn die Negierung nicht so überaus vorsichtig und geschickt, unter möglichster Vermeidung aller Provokationen vorginge. Der Plan der C. G. T. ist offensichtlich darauf ausgegangen, Negierung und Bürgertum zu schwächen. Sie versuchte demnach, auf einen Schlag Handel und Wandel im Lande zu lähmen, dies aber (echt französisch I) unter möglichster Schonung der Streikkassen. So schlössen sich dem nur sehr teilweise durchgeführten Eisenbahnerstreik zunächst die Transport- und Bauarbeiter an, dann erst Metall- und Bergarbeiter. Der Streik der Bergarbeiter ist dabei natürlich ausschlaggebend, doch haben die Eisenbahngesellschaften vorgesorgt und unter Kohlenmangel scheint der Betrieb der Eisenbahnen vorderhand nicht leiden zu müssen. Wie unsicher die Eisenbahner selbst sich fühlen, geht aus ihrer am siebenten geäußerten Bereit¬ willigkeit hervor, die Arbeit wieder aufzunehmen, wenn die Regierung sich bereit erklärt, eine aus Arbeitern, Technikern, Industriellen, Konsumenten und Produzenten (schon die Unklarheit dieser Fixierung spricht Bände!) zusammengesetzte Kom¬ mission zur Prüfung des Nationalisierungsproblems einzusetzen. Im Grunde geht der ganze Streit nicht um Nationalisierung oder Soziali¬ sierung, noch um Amnestie oder den Achtstundentag (der in Frankreich noch immer heftig angefochten wird), sondern darum, ob die Negierung oder die sozialistischen Führer die Macht über die Arbeitermassen bekommen. Die Regierung ist alles andere als reaktionär. Sie hat zwar ihre (sachlich keineswegs ganz ungerecht¬ fertigten) Zweifel über die Wirksamkeit der Steuergesetze „gegen" Kriegsgewinnler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337236/204>, abgerufen am 26.05.2024.