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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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Drinnen und draußen

[Beginn Spaltensatz]

sehen würden. Damals aber sagten sie dem
Volke, daß diese Konvention nur den Zweck
habe, das Vieh in Serbien per Stück zu be¬
steuern. In einem Lande, wo es wegen eines
Piasters Stcuerzuschlag möglich war, einen
Aufstand zu organisieren (184S), war es nicht
schwer, mit dieser Lüge Is 000 Menschen in
Aufruhr zu versetzen." Milan mag, als er
einmal in einem Gespräch mit Gevrgewitsch
die Serben als "zuviel Westler, zuviel Re¬
volutionäre", die Rußland daher nicht leiden
könne, bezeichnete, ähnliche Gedanken gehabt
haben.

Schließen will ich mit einer Anführung
aus meinem 190S erschienenen Handbuch der
"Volkskunde", wo ich die Wichtigkeit der
volksku blieben Feststellung des Volkscharakters
für den Historiker behandelte: "Wenn nun
schon der Boden mit Recht stets vor jeder
zusammenhängenden geschichtlichen Erzählung
betrachtet werden soll, weil der auf ihm
lebende Mensch seinen Einflüssen sich nicht
entziehen kann, soll es da dem Historiker
gleichgültig sein, tiefere Blicke in die Seele
des Volks zu werfen, mit dessen Geschichte er
sich beschäftigt? Sollten dessen Lebensgewohn¬
heiten, Anschauungen und dergleichen nich
von Einfluß auf sein Auftreten in der Ge¬
schichte und seine historische Entwicklung sein?
Wenn der Charakter des Einzelwesens für
dessen Tun und Lassen zum großen Teile be¬
stimmend ist, so muß dies im gewissen Sinne
doch auch von der Summe der Einzelwesen,
dem Volke gelten. Sehr treffend bemerkt
Krauß in der Einleitung zum serbischen
Guslarcnlied "Von Vitem, die em Helden¬
gemetzel ansagen" (Am Urquell, I, S. 3)
folgendes: "Die Fabel behandelt einen Kampf
um nichts, ein furchtbares Gemetzel um einige
Tropfen vergossenen Weines. So ist der
Südslawe seit jeher gewesen und so zeigen sich
auch die slawischen Balkanstaaten in der
Gegenwart. Die Politiker nennen den Balkan
den Wetterwinkel Europas. Man hat von
dort manche politische Überraschung erlebt, für
die man keine Erklärung sich zu geben weiß.
Man höre den Guslaren und seine Lieder
dann wird man auch d-n Südslawen ver.
stehen."

[Spaltenumbruch]

geschrieben worden. Für diese Auffassung
waren also nicht erst etwa die Vorgänge seir
1914 maßgebend. Man ersieht daraus wie
interessant volkskundliche und völkerpsycholvgi-
sche Studien für die Geschichtsforscher und
Politiker sein können.*)

Die Technische Nothilfe.

Am 30. Sep¬
tember 1920 war ein Jahr verflossen, seit¬
dem in Deutschland die Technische Nothilfe
ins Leben gerufen wurde. Zweck und Ziele
der Technischen Nothilfe dürften heute, nach
einem Jahr segensreichem Wirken, der großen
Öffentlichkeit in Deutschland genügend be¬
kannt sein.

Bei der Gründung der Technischen Not¬
hilfe müssen wir zwei große Bewegungen
unterscheiden. Einmal strebten die Arbeit¬
nehmer danach, mit allen Mitteln die Gewalt
in ihre Hände zu bekommen, um den Unter¬
nehmergewinn auszuschalten, zum andern
war die Allgemeinheit bestrebt, ihrerseits die
Auswirkungen von Arbeitseinstellungen auf
die Volkswirtschaft zu neutralisieren, da sie
nicht unter den wirtschaftlichen oder politischen
Kämpfen anderer leiden wollte.

Der Kampf der Arbeitnehmer um die Ver¬
besserung ihres Loses beginnt im 14. Jahr¬
hundert. Damals bestanden in Deutschland
die Zünfte, die sowohl Arbeitgeber wie
Arbeitnehmer (Meister und Gesellen) um¬
schlossen. Im Laufe der Zeit machte sich'
seitens der Gesellen der Wunsch bemerkbar,
aus der Zunftgerichtsbarkeit der Meister aus¬
zuscheiden und sich selbst Gesetze geben zu
dürfen. Hier haben wir die ersten Bestrebungen
der Arbeitnehmer, nach eigener Koalition zu
suchen.

Diese Bestrebungen führten zu größeren
Arbeitseinstellungen, die nicht wie heute sich
innerhalb kurzer Frist erledigten, sondern
zum Teil Jahre anhielten. Ich erinnere nur
an den Streik der Konstanzer Schneider¬
gesellen (1339 und 1410) und an den
Streik der Kolmarer Bäckergesellen, der
1495 begann und 10 Jahre dauerte.
Neichserlasse und Reichsgesetze suchten die
Streiks zu unterbinden, jedoch haben die
Arbeitnehmer immer wieder die Gelegenheit

[Ende Spaltensatz]

Diese Bemerkungen über die Psyche der
Serben sind schon vor zwanzig Jahren nieder¬



*) Darüber auch meine Czernowitzer
Rektoratsrede 1912.
Drinnen und draußen

[Beginn Spaltensatz]

sehen würden. Damals aber sagten sie dem
Volke, daß diese Konvention nur den Zweck
habe, das Vieh in Serbien per Stück zu be¬
steuern. In einem Lande, wo es wegen eines
Piasters Stcuerzuschlag möglich war, einen
Aufstand zu organisieren (184S), war es nicht
schwer, mit dieser Lüge Is 000 Menschen in
Aufruhr zu versetzen." Milan mag, als er
einmal in einem Gespräch mit Gevrgewitsch
die Serben als „zuviel Westler, zuviel Re¬
volutionäre", die Rußland daher nicht leiden
könne, bezeichnete, ähnliche Gedanken gehabt
haben.

Schließen will ich mit einer Anführung
aus meinem 190S erschienenen Handbuch der
„Volkskunde", wo ich die Wichtigkeit der
volksku blieben Feststellung des Volkscharakters
für den Historiker behandelte: „Wenn nun
schon der Boden mit Recht stets vor jeder
zusammenhängenden geschichtlichen Erzählung
betrachtet werden soll, weil der auf ihm
lebende Mensch seinen Einflüssen sich nicht
entziehen kann, soll es da dem Historiker
gleichgültig sein, tiefere Blicke in die Seele
des Volks zu werfen, mit dessen Geschichte er
sich beschäftigt? Sollten dessen Lebensgewohn¬
heiten, Anschauungen und dergleichen nich
von Einfluß auf sein Auftreten in der Ge¬
schichte und seine historische Entwicklung sein?
Wenn der Charakter des Einzelwesens für
dessen Tun und Lassen zum großen Teile be¬
stimmend ist, so muß dies im gewissen Sinne
doch auch von der Summe der Einzelwesen,
dem Volke gelten. Sehr treffend bemerkt
Krauß in der Einleitung zum serbischen
Guslarcnlied „Von Vitem, die em Helden¬
gemetzel ansagen" (Am Urquell, I, S. 3)
folgendes: „Die Fabel behandelt einen Kampf
um nichts, ein furchtbares Gemetzel um einige
Tropfen vergossenen Weines. So ist der
Südslawe seit jeher gewesen und so zeigen sich
auch die slawischen Balkanstaaten in der
Gegenwart. Die Politiker nennen den Balkan
den Wetterwinkel Europas. Man hat von
dort manche politische Überraschung erlebt, für
die man keine Erklärung sich zu geben weiß.
Man höre den Guslaren und seine Lieder
dann wird man auch d-n Südslawen ver.
stehen."

[Spaltenumbruch]

geschrieben worden. Für diese Auffassung
waren also nicht erst etwa die Vorgänge seir
1914 maßgebend. Man ersieht daraus wie
interessant volkskundliche und völkerpsycholvgi-
sche Studien für die Geschichtsforscher und
Politiker sein können.*)

Die Technische Nothilfe.

Am 30. Sep¬
tember 1920 war ein Jahr verflossen, seit¬
dem in Deutschland die Technische Nothilfe
ins Leben gerufen wurde. Zweck und Ziele
der Technischen Nothilfe dürften heute, nach
einem Jahr segensreichem Wirken, der großen
Öffentlichkeit in Deutschland genügend be¬
kannt sein.

Bei der Gründung der Technischen Not¬
hilfe müssen wir zwei große Bewegungen
unterscheiden. Einmal strebten die Arbeit¬
nehmer danach, mit allen Mitteln die Gewalt
in ihre Hände zu bekommen, um den Unter¬
nehmergewinn auszuschalten, zum andern
war die Allgemeinheit bestrebt, ihrerseits die
Auswirkungen von Arbeitseinstellungen auf
die Volkswirtschaft zu neutralisieren, da sie
nicht unter den wirtschaftlichen oder politischen
Kämpfen anderer leiden wollte.

Der Kampf der Arbeitnehmer um die Ver¬
besserung ihres Loses beginnt im 14. Jahr¬
hundert. Damals bestanden in Deutschland
die Zünfte, die sowohl Arbeitgeber wie
Arbeitnehmer (Meister und Gesellen) um¬
schlossen. Im Laufe der Zeit machte sich'
seitens der Gesellen der Wunsch bemerkbar,
aus der Zunftgerichtsbarkeit der Meister aus¬
zuscheiden und sich selbst Gesetze geben zu
dürfen. Hier haben wir die ersten Bestrebungen
der Arbeitnehmer, nach eigener Koalition zu
suchen.

Diese Bestrebungen führten zu größeren
Arbeitseinstellungen, die nicht wie heute sich
innerhalb kurzer Frist erledigten, sondern
zum Teil Jahre anhielten. Ich erinnere nur
an den Streik der Konstanzer Schneider¬
gesellen (1339 und 1410) und an den
Streik der Kolmarer Bäckergesellen, der
1495 begann und 10 Jahre dauerte.
Neichserlasse und Reichsgesetze suchten die
Streiks zu unterbinden, jedoch haben die
Arbeitnehmer immer wieder die Gelegenheit

[Ende Spaltensatz]

Diese Bemerkungen über die Psyche der
Serben sind schon vor zwanzig Jahren nieder¬



*) Darüber auch meine Czernowitzer
Rektoratsrede 1912.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/148>, abgerufen am 15.06.2024.