Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maler und Runst

[Beginn Spaltensatz]

historischen Bedeutung ein schönes
Zeugnis für den Takt und die Sicher¬
heit, mit der bis zum Kriege in Deutsch¬
land gesammelt wurde. Die Bilder
stammen alle aus deutschem Privat¬
besitz: es sind Dinge darunter, die bei
aller historischen Äugenblickswichtigkeit
schon jeder Diskussion entrückt sind.
Vor allem unter den Landschaften, weil
in ihnen Wesen und Ideal Cezannes,
seine Schwere und sein Wille zu ver¬
geistigter Schönheit, den reinsten Aus¬
gleich fanden. In den Stilleben (für
die Bauernbilder fehlen Beispiele) wirkt
im wesentlichen die eingeborene Schwere
nach, die das bekannte Selbstbildnis
mit dem großen wuchtigen Schädel
zeigt; in den Porträts bleibt dazu noch
die Bindung durch den Gegenstand und
seine Forderungen: in den Landschaften
aber löst sich das alles in dem Willen
zu reiner Form -- zur Schönheit. Am
Anfang stehen die schweren erdigen
Töne, wie sie der "Mord" zeigt, der
wie eine Vermittlung zwischen Daumier
und dem frühen van Gogh wirkt --
am Ende schwingen die Bilder in der
gcwichtlos süßen Farbigkeit der Pro¬
vencelandschaften, der Gartenbilder, der
"Roten Erde'. In Kopien nach Dela-
croix beginnt die schwere langsame Ab¬
lösung vom Ton. der Weg zur Farbe;
im Umgang mit Pissarro wird die
Reinigung der Mittel vollendet -- die
eigene Sehnsucht übernimmt die Füh¬
rung. Das Ziel ist das Bild, ein
Stück Schönheit in reiner Form und
Farbe -- ein Stück Poussin. Bis fast
zur Süßlichkeit im Farbigen opfert
Cezanne diesem Idol, dem alten klassi¬
zistischen Vorbild, das ewig das eine
Wahrzeichen Frankreichs gewesen ist.
Der Deutsche stellt die Forderung auf
nach einem fanatischen, inbrünstigen
Naturalismus; der Franzose, als der
westliche Mensch, kommt noch auf
dem Weg über die Natur -- beim
Klassischen. Formaten an. Neben dem
Naturalismus wird der zweite Strom
sichtbar, der in der kommenden Ab-
lösung des absinkenden Expressionismus
richtungbestimmend sein wird: der klassi¬
zistische. In Frankreich, in Italien ist
er bereits aktuell geworden, weil er
dort national bedingt ist. im dauernden
Lebensgefühl des Volkes seine Wurzeln
hat. Bei uns wird er auch bereits

[Spaltenumbruch]

sichtbar, obwohl diese Voraussetzung
hier fehlt. Das naturalistische (im
Sinne Meidners) liegt dem Deutschen
näher: gerade darum aber wird Ingres
sicher bei uns demnächst auch wieder
große Mode werden. Denn so weit sind
unsere Maler noch nicht, daß das be¬
wußt Nationale bei ihnen von selbst als
modern gilt wie bei den Romanen: das
wird wohl erst über Frankreich und
Italien zu uns kommen müssen.

Es gab eine Zeit, da galt Henri
Matisse als der Maler, der Cözanne
vollendet, die Formbestandteile in feinem
Werk herausgelöst und zu reiner Wir¬
kung zusammengefaßt hatte. Er war
so etwas wie der sagenhafte Vater des
Expressionismus, vor allem des deut¬
schen, der von ihm das Entscheidende
empfangen haben sollte. Die Aus¬
stellung bei Flechtheim zeigt, daß dies
alles Deutung von falschen Voraus¬
setzungen aus war. Was Matisse mit
dem Expressionismus verbindet, ist
lediglich seine Rücksicht auf den Bild-
bau: gefühlsmäßig hat er mit ihm nichts
zu tun, schon weil ihm die wesentliche
Vorbedingung eines starken Gefühls
fehlt. Cözanne vollenden konnte er
schon darum nicht, weil seine Arbeit an
einen ganz anderen Punkt der im¬
pressionistischen Entwicklung ansetzte als
dessen Werk, nämlich beim Dekorativen.
Matisse ist der Fortsetzer nicht Cözcmnes,
sondern der Bonnard und Vuillard und
der anderen dekorativen Spätimpressio¬
nisten: mit ihnen verbindet ihn der Ge¬
schmack, die zarte Feinheit des Farbigen,
die dünne, durchaus unpersönliche
seelische Haltung. Was ihn über sie
hinaushebt, ist die Tatsache, daß er,
später geboren, seine Bilder fester fügt,
seine blassen Erlebnisse an einem sauberen,
ein bißchen pedantischen und langweili¬
gen Gerüst verfestigt. Bei kleinen For-
maten gibt das zuweilen ganz feine,
geschmackvolle Resultate; bei den großen
vermag es die Leere und Unerfülltheit
beim besten Willen nicht zu verdecken.
Also daß zuletzt die Ausstellung des
Jüngeren noch lebenden Matisse viel
viel historischer wirkt als die des toten
Cezanne -- und insofern also gut in
die skizzierte Situation im heutigen
Deutschland paßt. Nur daß man hier
nur schon Erledigtes, nicht mehr neu
zu Erledigendes finden kann. Fechter

[Ende Spaltensatz]
Maler und Runst

[Beginn Spaltensatz]

historischen Bedeutung ein schönes
Zeugnis für den Takt und die Sicher¬
heit, mit der bis zum Kriege in Deutsch¬
land gesammelt wurde. Die Bilder
stammen alle aus deutschem Privat¬
besitz: es sind Dinge darunter, die bei
aller historischen Äugenblickswichtigkeit
schon jeder Diskussion entrückt sind.
Vor allem unter den Landschaften, weil
in ihnen Wesen und Ideal Cezannes,
seine Schwere und sein Wille zu ver¬
geistigter Schönheit, den reinsten Aus¬
gleich fanden. In den Stilleben (für
die Bauernbilder fehlen Beispiele) wirkt
im wesentlichen die eingeborene Schwere
nach, die das bekannte Selbstbildnis
mit dem großen wuchtigen Schädel
zeigt; in den Porträts bleibt dazu noch
die Bindung durch den Gegenstand und
seine Forderungen: in den Landschaften
aber löst sich das alles in dem Willen
zu reiner Form — zur Schönheit. Am
Anfang stehen die schweren erdigen
Töne, wie sie der „Mord" zeigt, der
wie eine Vermittlung zwischen Daumier
und dem frühen van Gogh wirkt —
am Ende schwingen die Bilder in der
gcwichtlos süßen Farbigkeit der Pro¬
vencelandschaften, der Gartenbilder, der
„Roten Erde'. In Kopien nach Dela-
croix beginnt die schwere langsame Ab¬
lösung vom Ton. der Weg zur Farbe;
im Umgang mit Pissarro wird die
Reinigung der Mittel vollendet — die
eigene Sehnsucht übernimmt die Füh¬
rung. Das Ziel ist das Bild, ein
Stück Schönheit in reiner Form und
Farbe — ein Stück Poussin. Bis fast
zur Süßlichkeit im Farbigen opfert
Cezanne diesem Idol, dem alten klassi¬
zistischen Vorbild, das ewig das eine
Wahrzeichen Frankreichs gewesen ist.
Der Deutsche stellt die Forderung auf
nach einem fanatischen, inbrünstigen
Naturalismus; der Franzose, als der
westliche Mensch, kommt noch auf
dem Weg über die Natur — beim
Klassischen. Formaten an. Neben dem
Naturalismus wird der zweite Strom
sichtbar, der in der kommenden Ab-
lösung des absinkenden Expressionismus
richtungbestimmend sein wird: der klassi¬
zistische. In Frankreich, in Italien ist
er bereits aktuell geworden, weil er
dort national bedingt ist. im dauernden
Lebensgefühl des Volkes seine Wurzeln
hat. Bei uns wird er auch bereits

[Spaltenumbruch]

sichtbar, obwohl diese Voraussetzung
hier fehlt. Das naturalistische (im
Sinne Meidners) liegt dem Deutschen
näher: gerade darum aber wird Ingres
sicher bei uns demnächst auch wieder
große Mode werden. Denn so weit sind
unsere Maler noch nicht, daß das be¬
wußt Nationale bei ihnen von selbst als
modern gilt wie bei den Romanen: das
wird wohl erst über Frankreich und
Italien zu uns kommen müssen.

Es gab eine Zeit, da galt Henri
Matisse als der Maler, der Cözanne
vollendet, die Formbestandteile in feinem
Werk herausgelöst und zu reiner Wir¬
kung zusammengefaßt hatte. Er war
so etwas wie der sagenhafte Vater des
Expressionismus, vor allem des deut¬
schen, der von ihm das Entscheidende
empfangen haben sollte. Die Aus¬
stellung bei Flechtheim zeigt, daß dies
alles Deutung von falschen Voraus¬
setzungen aus war. Was Matisse mit
dem Expressionismus verbindet, ist
lediglich seine Rücksicht auf den Bild-
bau: gefühlsmäßig hat er mit ihm nichts
zu tun, schon weil ihm die wesentliche
Vorbedingung eines starken Gefühls
fehlt. Cözanne vollenden konnte er
schon darum nicht, weil seine Arbeit an
einen ganz anderen Punkt der im¬
pressionistischen Entwicklung ansetzte als
dessen Werk, nämlich beim Dekorativen.
Matisse ist der Fortsetzer nicht Cözcmnes,
sondern der Bonnard und Vuillard und
der anderen dekorativen Spätimpressio¬
nisten: mit ihnen verbindet ihn der Ge¬
schmack, die zarte Feinheit des Farbigen,
die dünne, durchaus unpersönliche
seelische Haltung. Was ihn über sie
hinaushebt, ist die Tatsache, daß er,
später geboren, seine Bilder fester fügt,
seine blassen Erlebnisse an einem sauberen,
ein bißchen pedantischen und langweili¬
gen Gerüst verfestigt. Bei kleinen For-
maten gibt das zuweilen ganz feine,
geschmackvolle Resultate; bei den großen
vermag es die Leere und Unerfülltheit
beim besten Willen nicht zu verdecken.
Also daß zuletzt die Ausstellung des
Jüngeren noch lebenden Matisse viel
viel historischer wirkt als die des toten
Cezanne — und insofern also gut in
die skizzierte Situation im heutigen
Deutschland paßt. Nur daß man hier
nur schon Erledigtes, nicht mehr neu
zu Erledigendes finden kann. Fechter

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0364" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339913"/>
          <fw type="header" place="top"> Maler und Runst</fw><lb/>
          <cb type="start"/>
          <p xml:id="ID_1658" prev="#ID_1657" next="#ID_1659"> historischen  Bedeutung  ein schönes<lb/>
Zeugnis für den Takt und die Sicher¬<lb/>
heit, mit der bis zum Kriege in Deutsch¬<lb/>
land gesammelt wurde.  Die Bilder<lb/>
stammen alle aus deutschem Privat¬<lb/>
besitz: es sind Dinge darunter, die bei<lb/>
aller historischen Äugenblickswichtigkeit<lb/>
schon jeder Diskussion entrückt sind.<lb/>
Vor allem unter den Landschaften, weil<lb/>
in ihnen Wesen und Ideal Cezannes,<lb/>
seine Schwere und sein Wille zu ver¬<lb/>
geistigter Schönheit, den reinsten Aus¬<lb/>
gleich fanden. In den Stilleben (für<lb/>
die Bauernbilder fehlen Beispiele) wirkt<lb/>
im wesentlichen die eingeborene Schwere<lb/>
nach, die das bekannte Selbstbildnis<lb/>
mit dem großen wuchtigen Schädel<lb/>
zeigt; in den Porträts bleibt dazu noch<lb/>
die Bindung durch den Gegenstand und<lb/>
seine Forderungen: in den Landschaften<lb/>
aber löst sich das alles in dem Willen<lb/>
zu reiner Form &#x2014; zur Schönheit. Am<lb/>
Anfang stehen die schweren erdigen<lb/>
Töne, wie sie der &#x201E;Mord" zeigt, der<lb/>
wie eine Vermittlung zwischen Daumier<lb/>
und dem frühen van Gogh wirkt &#x2014;<lb/>
am Ende schwingen die Bilder in der<lb/>
gcwichtlos süßen Farbigkeit der Pro¬<lb/>
vencelandschaften, der Gartenbilder, der<lb/>
&#x201E;Roten Erde'. In Kopien nach Dela-<lb/>
croix beginnt die schwere langsame Ab¬<lb/>
lösung vom Ton. der Weg zur Farbe;<lb/>
im Umgang mit Pissarro wird die<lb/>
Reinigung der Mittel vollendet &#x2014; die<lb/>
eigene Sehnsucht übernimmt die Füh¬<lb/>
rung.  Das Ziel ist das Bild, ein<lb/>
Stück Schönheit in reiner Form und<lb/>
Farbe &#x2014; ein Stück Poussin. Bis fast<lb/>
zur Süßlichkeit im Farbigen opfert<lb/>
Cezanne diesem Idol, dem alten klassi¬<lb/>
zistischen Vorbild, das ewig das eine<lb/>
Wahrzeichen Frankreichs gewesen ist.<lb/>
Der Deutsche stellt die Forderung auf<lb/>
nach einem fanatischen, inbrünstigen<lb/>
Naturalismus; der Franzose, als der<lb/>
westliche Mensch,  kommt  noch auf<lb/>
dem Weg über die Natur &#x2014; beim<lb/>
Klassischen. Formaten an. Neben dem<lb/>
Naturalismus wird der zweite Strom<lb/>
sichtbar, der in der kommenden Ab-<lb/>
lösung des absinkenden Expressionismus<lb/>
richtungbestimmend sein wird: der klassi¬<lb/>
zistische. In Frankreich, in Italien ist<lb/>
er bereits aktuell geworden, weil er<lb/>
dort national bedingt ist. im dauernden<lb/>
Lebensgefühl des Volkes seine Wurzeln<lb/>
hat.  Bei uns wird er auch bereits</p>
          <cb/><lb/>
          <p xml:id="ID_1659" prev="#ID_1658"> sichtbar, obwohl diese Voraussetzung<lb/>
hier fehlt. Das naturalistische (im<lb/>
Sinne Meidners) liegt dem Deutschen<lb/>
näher: gerade darum aber wird Ingres<lb/>
sicher bei uns demnächst auch wieder<lb/>
große Mode werden. Denn so weit sind<lb/>
unsere Maler noch nicht, daß das be¬<lb/>
wußt Nationale bei ihnen von selbst als<lb/>
modern gilt wie bei den Romanen: das<lb/>
wird wohl erst über Frankreich und<lb/>
Italien zu uns kommen müssen.</p>
          <p xml:id="ID_1660"> Es gab eine Zeit, da galt Henri<lb/>
Matisse als der Maler, der Cözanne<lb/>
vollendet, die Formbestandteile in feinem<lb/>
Werk herausgelöst und zu reiner Wir¬<lb/>
kung zusammengefaßt hatte. Er war<lb/>
so etwas wie der sagenhafte Vater des<lb/>
Expressionismus, vor allem des deut¬<lb/>
schen, der von ihm das Entscheidende<lb/>
empfangen haben sollte. Die Aus¬<lb/>
stellung bei Flechtheim zeigt, daß dies<lb/>
alles Deutung von falschen Voraus¬<lb/>
setzungen aus war. Was Matisse mit<lb/>
dem Expressionismus verbindet, ist<lb/>
lediglich seine Rücksicht auf den Bild-<lb/>
bau: gefühlsmäßig hat er mit ihm nichts<lb/>
zu tun, schon weil ihm die wesentliche<lb/>
Vorbedingung eines starken Gefühls<lb/>
fehlt. Cözanne vollenden konnte er<lb/>
schon darum nicht, weil seine Arbeit an<lb/>
einen ganz anderen Punkt der im¬<lb/>
pressionistischen Entwicklung ansetzte als<lb/>
dessen Werk, nämlich beim Dekorativen.<lb/>
Matisse ist der Fortsetzer nicht Cözcmnes,<lb/>
sondern der Bonnard und Vuillard und<lb/>
der anderen dekorativen Spätimpressio¬<lb/>
nisten: mit ihnen verbindet ihn der Ge¬<lb/>
schmack, die zarte Feinheit des Farbigen,<lb/>
die dünne, durchaus unpersönliche<lb/>
seelische Haltung. Was ihn über sie<lb/>
hinaushebt, ist die Tatsache, daß er,<lb/>
später geboren, seine Bilder fester fügt,<lb/>
seine blassen Erlebnisse an einem sauberen,<lb/>
ein bißchen pedantischen und langweili¬<lb/>
gen Gerüst verfestigt. Bei kleinen For-<lb/>
maten gibt das zuweilen ganz feine,<lb/>
geschmackvolle Resultate; bei den großen<lb/>
vermag es die Leere und Unerfülltheit<lb/>
beim besten Willen nicht zu verdecken.<lb/>
Also daß zuletzt die Ausstellung des<lb/>
Jüngeren noch lebenden Matisse viel<lb/>
viel historischer wirkt als die des toten<lb/>
Cezanne &#x2014; und insofern also gut in<lb/>
die skizzierte Situation im heutigen<lb/>
Deutschland paßt. Nur daß man hier<lb/>
nur schon Erledigtes, nicht mehr neu<lb/>
zu Erledigendes finden kann. Fechter</p>
          <cb type="end"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0364] Maler und Runst historischen Bedeutung ein schönes Zeugnis für den Takt und die Sicher¬ heit, mit der bis zum Kriege in Deutsch¬ land gesammelt wurde. Die Bilder stammen alle aus deutschem Privat¬ besitz: es sind Dinge darunter, die bei aller historischen Äugenblickswichtigkeit schon jeder Diskussion entrückt sind. Vor allem unter den Landschaften, weil in ihnen Wesen und Ideal Cezannes, seine Schwere und sein Wille zu ver¬ geistigter Schönheit, den reinsten Aus¬ gleich fanden. In den Stilleben (für die Bauernbilder fehlen Beispiele) wirkt im wesentlichen die eingeborene Schwere nach, die das bekannte Selbstbildnis mit dem großen wuchtigen Schädel zeigt; in den Porträts bleibt dazu noch die Bindung durch den Gegenstand und seine Forderungen: in den Landschaften aber löst sich das alles in dem Willen zu reiner Form — zur Schönheit. Am Anfang stehen die schweren erdigen Töne, wie sie der „Mord" zeigt, der wie eine Vermittlung zwischen Daumier und dem frühen van Gogh wirkt — am Ende schwingen die Bilder in der gcwichtlos süßen Farbigkeit der Pro¬ vencelandschaften, der Gartenbilder, der „Roten Erde'. In Kopien nach Dela- croix beginnt die schwere langsame Ab¬ lösung vom Ton. der Weg zur Farbe; im Umgang mit Pissarro wird die Reinigung der Mittel vollendet — die eigene Sehnsucht übernimmt die Füh¬ rung. Das Ziel ist das Bild, ein Stück Schönheit in reiner Form und Farbe — ein Stück Poussin. Bis fast zur Süßlichkeit im Farbigen opfert Cezanne diesem Idol, dem alten klassi¬ zistischen Vorbild, das ewig das eine Wahrzeichen Frankreichs gewesen ist. Der Deutsche stellt die Forderung auf nach einem fanatischen, inbrünstigen Naturalismus; der Franzose, als der westliche Mensch, kommt noch auf dem Weg über die Natur — beim Klassischen. Formaten an. Neben dem Naturalismus wird der zweite Strom sichtbar, der in der kommenden Ab- lösung des absinkenden Expressionismus richtungbestimmend sein wird: der klassi¬ zistische. In Frankreich, in Italien ist er bereits aktuell geworden, weil er dort national bedingt ist. im dauernden Lebensgefühl des Volkes seine Wurzeln hat. Bei uns wird er auch bereits sichtbar, obwohl diese Voraussetzung hier fehlt. Das naturalistische (im Sinne Meidners) liegt dem Deutschen näher: gerade darum aber wird Ingres sicher bei uns demnächst auch wieder große Mode werden. Denn so weit sind unsere Maler noch nicht, daß das be¬ wußt Nationale bei ihnen von selbst als modern gilt wie bei den Romanen: das wird wohl erst über Frankreich und Italien zu uns kommen müssen. Es gab eine Zeit, da galt Henri Matisse als der Maler, der Cözanne vollendet, die Formbestandteile in feinem Werk herausgelöst und zu reiner Wir¬ kung zusammengefaßt hatte. Er war so etwas wie der sagenhafte Vater des Expressionismus, vor allem des deut¬ schen, der von ihm das Entscheidende empfangen haben sollte. Die Aus¬ stellung bei Flechtheim zeigt, daß dies alles Deutung von falschen Voraus¬ setzungen aus war. Was Matisse mit dem Expressionismus verbindet, ist lediglich seine Rücksicht auf den Bild- bau: gefühlsmäßig hat er mit ihm nichts zu tun, schon weil ihm die wesentliche Vorbedingung eines starken Gefühls fehlt. Cözanne vollenden konnte er schon darum nicht, weil seine Arbeit an einen ganz anderen Punkt der im¬ pressionistischen Entwicklung ansetzte als dessen Werk, nämlich beim Dekorativen. Matisse ist der Fortsetzer nicht Cözcmnes, sondern der Bonnard und Vuillard und der anderen dekorativen Spätimpressio¬ nisten: mit ihnen verbindet ihn der Ge¬ schmack, die zarte Feinheit des Farbigen, die dünne, durchaus unpersönliche seelische Haltung. Was ihn über sie hinaushebt, ist die Tatsache, daß er, später geboren, seine Bilder fester fügt, seine blassen Erlebnisse an einem sauberen, ein bißchen pedantischen und langweili¬ gen Gerüst verfestigt. Bei kleinen For- maten gibt das zuweilen ganz feine, geschmackvolle Resultate; bei den großen vermag es die Leere und Unerfülltheit beim besten Willen nicht zu verdecken. Also daß zuletzt die Ausstellung des Jüngeren noch lebenden Matisse viel viel historischer wirkt als die des toten Cezanne — und insofern also gut in die skizzierte Situation im heutigen Deutschland paßt. Nur daß man hier nur schon Erledigtes, nicht mehr neu zu Erledigendes finden kann. Fechter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/364
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/364>, abgerufen am 14.05.2024.