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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Maler und Kunst

Maler und Aunst

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Die augenblickliche Situation der
deutschen Malerei ist sehr eigentümlich.
Es ist wie kurz vor einem Umkehrpunkt
eines Pendels: die Bewegung ist fast
schon zur Ruhe gekommen, Energie wird
gesammelt, nicht mehr kinetisch ausge¬
wirkt. Man wartet ab. bis die Rich¬
tung sichtbar wird, in der das Pendel,
von neuem kraftgesättigt, weiterschwingen
wird: die Arme sinken ein wenig --
man besinnt sich.

Ein äußeres Anzeichen spricht für
diese Deutung der Lage. Man kann
sie auch ohne dieses mühelos bei einem
Rundgang durch die Sezession, durch
die Jmyfreie verificieren, in denen auch
nur ein paar sehr bestimmt gerichtete
Talente wie Magnus Zeller, der merk¬
würdige Karl Voelker, vielleicht noch
Kauf nach Wegen suchen, während die
anderen in festen Kreisen wartend stehen.
Viel klarer aber wird sie rein durch die
Tatsache, daß fast alle übrigen Aus¬
stellungen, die augenblicklich in Berlin
gezeigt werden, im strengen Sinne
historisch sind. Paul Cassirer bringt
Cözanne, Flechtheim Matisse, Gurlitt
Kokoschka; in der Akademie sieht man
Karl Blechen, überall Besinnung, lange
Gewertetes, fast schon Problemloses:
die Zeit selbst, das Heutige bleibt außer-
halb -- in der Stille des Wartens.
Die Woge des Expressionismus, denner
und breiter geworden bis zur Popu¬
larität, verrollt langsam in der Ferne;
vom Neuen, Kommenden werden erst
die ersten Zeichen sichtbar: so holt man
noch einmal die Führer von gestern und
vorgestern heran.


Wunderlich paßt Paul Cözanne in
diese Situation. Sein W-rk steht an
der Wende zweier Zeiten: in ihm wächst
wie in van Gogh, wenn auch auf sehr
anderem Boden, über der impressionisti¬
schen Grundlage langsam, organisch, ein
Neues, weit darüber Hinausweisendes.
Auf persönlichen Wegen wird das alte
strenge Bildgesetz neu gewonnen; aus
dem vergeistigter Material, das der
Impressionismus gereinigt hatte, wird
ein Bildgefüge gewoben, das jenseits
alles zufälligen die feste Sicherheit des
abstrakten geben soll, über den im¬

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pressionistischen Voraussetzungen wachsen
erst halb geformt die ersten Ansätze
des Expressionismus; das Grundgefühl
des Kubismus, der Wille zur dritten
Dimension in der eingeebneten Welt
der Flächen wird sichtbar: schwer geballt
bei aller Gelöstheit von der Materie
liegt dieses Werk da -- den letzten
Wendepunkt bezeichnend, den wir er¬
lebten. Heute wird es von neuem vor
uns hingestellt -- und aus der neuen
Situation sehen wir es gewissermaßen
aus der entgegengesetzten Richtung.
Noch in Köln 1912 empfand man die
expressionistische Komponente als das
entscheidende, sah von dem impressio-
nistiscken Anteil aus auf sie. in der die
Umrisse des damals Neuen, Lebendigen
zuerst vorgezeichnet waren. Heute sieht
man durch diesen inzwischen ebenfalls
historisch gewordenen Expressionismus
im Werk Cezannes hindurch auf die
Steigerung, die der impressionistische
Naturalismus, der in diesen Bildern
steckt, von dort her erfahren hat. Denn
wenn nicht alle Anzeichen trügen, so
wird der eine Strom des Kommenden
sicherlich in dieser Richtung sich bewegen:
zu einem neuen Naturalismus, der die
Gefühls- und Formergcbnisse des Ex¬
pressionismus als notwendige und un¬
verlierbare Voraussetzungen mitnimmt.
Einer der Maler des Expressionismus
hat das schon vor ein paar Jahren
vorausschauend ausgesprochen: bereits
1918 schrieb Ludwig Mcidner in seinem
"Scptemberschrci" vie Sätze: "Worauf
es morgen ankommt, was mir und
allen anderen nottut. ist ein fanatischer,
inbrünstiger Naturalismus, eine glut¬
voll männliche und unbeirrbare Wahr¬
haftigkeit wie die der Meister Mulischcr
und Ginnewald, Bosch und Breughel.
Denn wir wollen ja dem Höchsten
dienen mit unserem Geschäft. Wir haben
die großen Gesichte zu schaffen -- wie
könnten wir das anders als mit
den Formen der äußeren Welt." --
Cözanne wird zu diesem neuen Natura-
lismus, von unserer heutigen Perspektive
aus gesehen, wahrscheinlich wiederum
entscheidendes beizutragen haben.

Im Einzelnen wie als Ganzes be¬
trachtet ist die Ausstellung neben dieser

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Maler und Aunst

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Die augenblickliche Situation der
deutschen Malerei ist sehr eigentümlich.
Es ist wie kurz vor einem Umkehrpunkt
eines Pendels: die Bewegung ist fast
schon zur Ruhe gekommen, Energie wird
gesammelt, nicht mehr kinetisch ausge¬
wirkt. Man wartet ab. bis die Rich¬
tung sichtbar wird, in der das Pendel,
von neuem kraftgesättigt, weiterschwingen
wird: die Arme sinken ein wenig —
man besinnt sich.

Ein äußeres Anzeichen spricht für
diese Deutung der Lage. Man kann
sie auch ohne dieses mühelos bei einem
Rundgang durch die Sezession, durch
die Jmyfreie verificieren, in denen auch
nur ein paar sehr bestimmt gerichtete
Talente wie Magnus Zeller, der merk¬
würdige Karl Voelker, vielleicht noch
Kauf nach Wegen suchen, während die
anderen in festen Kreisen wartend stehen.
Viel klarer aber wird sie rein durch die
Tatsache, daß fast alle übrigen Aus¬
stellungen, die augenblicklich in Berlin
gezeigt werden, im strengen Sinne
historisch sind. Paul Cassirer bringt
Cözanne, Flechtheim Matisse, Gurlitt
Kokoschka; in der Akademie sieht man
Karl Blechen, überall Besinnung, lange
Gewertetes, fast schon Problemloses:
die Zeit selbst, das Heutige bleibt außer-
halb — in der Stille des Wartens.
Die Woge des Expressionismus, denner
und breiter geworden bis zur Popu¬
larität, verrollt langsam in der Ferne;
vom Neuen, Kommenden werden erst
die ersten Zeichen sichtbar: so holt man
noch einmal die Führer von gestern und
vorgestern heran.


Wunderlich paßt Paul Cözanne in
diese Situation. Sein W-rk steht an
der Wende zweier Zeiten: in ihm wächst
wie in van Gogh, wenn auch auf sehr
anderem Boden, über der impressionisti¬
schen Grundlage langsam, organisch, ein
Neues, weit darüber Hinausweisendes.
Auf persönlichen Wegen wird das alte
strenge Bildgesetz neu gewonnen; aus
dem vergeistigter Material, das der
Impressionismus gereinigt hatte, wird
ein Bildgefüge gewoben, das jenseits
alles zufälligen die feste Sicherheit des
abstrakten geben soll, über den im¬

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pressionistischen Voraussetzungen wachsen
erst halb geformt die ersten Ansätze
des Expressionismus; das Grundgefühl
des Kubismus, der Wille zur dritten
Dimension in der eingeebneten Welt
der Flächen wird sichtbar: schwer geballt
bei aller Gelöstheit von der Materie
liegt dieses Werk da — den letzten
Wendepunkt bezeichnend, den wir er¬
lebten. Heute wird es von neuem vor
uns hingestellt — und aus der neuen
Situation sehen wir es gewissermaßen
aus der entgegengesetzten Richtung.
Noch in Köln 1912 empfand man die
expressionistische Komponente als das
entscheidende, sah von dem impressio-
nistiscken Anteil aus auf sie. in der die
Umrisse des damals Neuen, Lebendigen
zuerst vorgezeichnet waren. Heute sieht
man durch diesen inzwischen ebenfalls
historisch gewordenen Expressionismus
im Werk Cezannes hindurch auf die
Steigerung, die der impressionistische
Naturalismus, der in diesen Bildern
steckt, von dort her erfahren hat. Denn
wenn nicht alle Anzeichen trügen, so
wird der eine Strom des Kommenden
sicherlich in dieser Richtung sich bewegen:
zu einem neuen Naturalismus, der die
Gefühls- und Formergcbnisse des Ex¬
pressionismus als notwendige und un¬
verlierbare Voraussetzungen mitnimmt.
Einer der Maler des Expressionismus
hat das schon vor ein paar Jahren
vorausschauend ausgesprochen: bereits
1918 schrieb Ludwig Mcidner in seinem
„Scptemberschrci" vie Sätze: „Worauf
es morgen ankommt, was mir und
allen anderen nottut. ist ein fanatischer,
inbrünstiger Naturalismus, eine glut¬
voll männliche und unbeirrbare Wahr¬
haftigkeit wie die der Meister Mulischcr
und Ginnewald, Bosch und Breughel.
Denn wir wollen ja dem Höchsten
dienen mit unserem Geschäft. Wir haben
die großen Gesichte zu schaffen — wie
könnten wir das anders als mit
den Formen der äußeren Welt." —
Cözanne wird zu diesem neuen Natura-
lismus, von unserer heutigen Perspektive
aus gesehen, wahrscheinlich wiederum
entscheidendes beizutragen haben.

Im Einzelnen wie als Ganzes be¬
trachtet ist die Ausstellung neben dieser

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[0363] Z55 Maler und Kunst Maler und Aunst Die augenblickliche Situation der deutschen Malerei ist sehr eigentümlich. Es ist wie kurz vor einem Umkehrpunkt eines Pendels: die Bewegung ist fast schon zur Ruhe gekommen, Energie wird gesammelt, nicht mehr kinetisch ausge¬ wirkt. Man wartet ab. bis die Rich¬ tung sichtbar wird, in der das Pendel, von neuem kraftgesättigt, weiterschwingen wird: die Arme sinken ein wenig — man besinnt sich. Ein äußeres Anzeichen spricht für diese Deutung der Lage. Man kann sie auch ohne dieses mühelos bei einem Rundgang durch die Sezession, durch die Jmyfreie verificieren, in denen auch nur ein paar sehr bestimmt gerichtete Talente wie Magnus Zeller, der merk¬ würdige Karl Voelker, vielleicht noch Kauf nach Wegen suchen, während die anderen in festen Kreisen wartend stehen. Viel klarer aber wird sie rein durch die Tatsache, daß fast alle übrigen Aus¬ stellungen, die augenblicklich in Berlin gezeigt werden, im strengen Sinne historisch sind. Paul Cassirer bringt Cözanne, Flechtheim Matisse, Gurlitt Kokoschka; in der Akademie sieht man Karl Blechen, überall Besinnung, lange Gewertetes, fast schon Problemloses: die Zeit selbst, das Heutige bleibt außer- halb — in der Stille des Wartens. Die Woge des Expressionismus, denner und breiter geworden bis zur Popu¬ larität, verrollt langsam in der Ferne; vom Neuen, Kommenden werden erst die ersten Zeichen sichtbar: so holt man noch einmal die Führer von gestern und vorgestern heran. Wunderlich paßt Paul Cözanne in diese Situation. Sein W-rk steht an der Wende zweier Zeiten: in ihm wächst wie in van Gogh, wenn auch auf sehr anderem Boden, über der impressionisti¬ schen Grundlage langsam, organisch, ein Neues, weit darüber Hinausweisendes. Auf persönlichen Wegen wird das alte strenge Bildgesetz neu gewonnen; aus dem vergeistigter Material, das der Impressionismus gereinigt hatte, wird ein Bildgefüge gewoben, das jenseits alles zufälligen die feste Sicherheit des abstrakten geben soll, über den im¬ pressionistischen Voraussetzungen wachsen erst halb geformt die ersten Ansätze des Expressionismus; das Grundgefühl des Kubismus, der Wille zur dritten Dimension in der eingeebneten Welt der Flächen wird sichtbar: schwer geballt bei aller Gelöstheit von der Materie liegt dieses Werk da — den letzten Wendepunkt bezeichnend, den wir er¬ lebten. Heute wird es von neuem vor uns hingestellt — und aus der neuen Situation sehen wir es gewissermaßen aus der entgegengesetzten Richtung. Noch in Köln 1912 empfand man die expressionistische Komponente als das entscheidende, sah von dem impressio- nistiscken Anteil aus auf sie. in der die Umrisse des damals Neuen, Lebendigen zuerst vorgezeichnet waren. Heute sieht man durch diesen inzwischen ebenfalls historisch gewordenen Expressionismus im Werk Cezannes hindurch auf die Steigerung, die der impressionistische Naturalismus, der in diesen Bildern steckt, von dort her erfahren hat. Denn wenn nicht alle Anzeichen trügen, so wird der eine Strom des Kommenden sicherlich in dieser Richtung sich bewegen: zu einem neuen Naturalismus, der die Gefühls- und Formergcbnisse des Ex¬ pressionismus als notwendige und un¬ verlierbare Voraussetzungen mitnimmt. Einer der Maler des Expressionismus hat das schon vor ein paar Jahren vorausschauend ausgesprochen: bereits 1918 schrieb Ludwig Mcidner in seinem „Scptemberschrci" vie Sätze: „Worauf es morgen ankommt, was mir und allen anderen nottut. ist ein fanatischer, inbrünstiger Naturalismus, eine glut¬ voll männliche und unbeirrbare Wahr¬ haftigkeit wie die der Meister Mulischcr und Ginnewald, Bosch und Breughel. Denn wir wollen ja dem Höchsten dienen mit unserem Geschäft. Wir haben die großen Gesichte zu schaffen — wie könnten wir das anders als mit den Formen der äußeren Welt." — Cözanne wird zu diesem neuen Natura- lismus, von unserer heutigen Perspektive aus gesehen, wahrscheinlich wiederum entscheidendes beizutragen haben. Im Einzelnen wie als Ganzes be¬ trachtet ist die Ausstellung neben dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/363>, abgerufen am 30.05.2024.