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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Aulwrwirtschcift über Wirtschaftspolitik

urteile von ehedem sind gesprengt, die Berufswahl ist freigegeben. Freizügigkeit
herrscht, die Kenntnisse sind gewachsen, der Blick ist geweidet. Aber wir ti'ufm
uns durch die äußeren Veränderungen, die der Sieg des Liberalismus über uns
brachte, den Buel nicht trüben lassen für das, was wir eigentlich erstrebten, was
das Leben allein lebcnswert macht und was in erster Linie nottut, jetzt wie
allezeit. Hüten wir uns besonders,Vor Redensarten wie "Fortschritt, Entwicklung,
Aufstieg", die dem gedankenlosen Lobredner der Gegenwart den Sinn verwirren.
Der von Ideen und Verantwortung erfüllte Politiker erstrebt doch nicht den "Fort¬
schritt", nicht die Entwicklung um der Entwicklung willen. Nach den grausamen
Enttäuschungen, die uns die Steigerung der Produktion, die Entfaltung aller
Kräfte der Natur und des Geistes bereiteten, ist jeder nachdenkliche Mensch zur
Kritik verpflichtet darüber, was es mit diesen Errungenschaften eigentlich ans sich
habe. Im Grunde sind sie nichts weiter als die .Hebel, die Hilfsmittel, vielleicht
vermeidliche oder notwendige Begleitumstands für das eigentliche Ziel jeder ver¬
nünftigen Politik. Dieses Ziel ist ein rein innerliches, rein psychologisches und
heißt: Glück, innere Zufriedenheit der meisten im Staate! Das Glücksgefüh!
hängt allerdings zum Teil ab von den äußeren materiellen Zustünden im Staate,
ober doch nur zur einen Hälfte. Der andere Teil schlummert in den ideellen
Bedürfnissen der Bevölürung, in seinen Vorstellungen und Ansprüchen in bezug
auf Sitte, Recht, Bildung. Religion. Sind diese unbefriedigt, so können die höchste
Wohlhabenheit, die strahlendsten Siege auf wirtschaftlichem, militärischem oder auf
irgend einem anderen materiellen Gebiet den Staat nicht vor Erschütterungen be¬
Waren, wie das Reich Kaiser Wilhelms II zeigt. Diesen inneren Gehalt, die un¬
wägbaren Grundlagen eines jeden Organismus, hat die deutsche Staatskunst seit
je in ihrer Bedeutung verkannt, zugunsten des äußeren technisch wirtschaftlichen
"Fortschritts". Die Schuld unserer Politiker läuft weiter. Sie haben inmernoch
nichts gelernt in der Schule polnischer Erfahrung. Wie die Minister -- Staats¬
männer sind es nicht gewesen -- Wilhelms II. die sozialen Neichsinteressen
unterschätzten, so setzen sich ihre Nachfolger über nationale Pflichten hinweg
mit cimr Leichtfertigkeit, die wiederum das Schicksal geradezu herausfordert. Das
Reich kann nicht zur Ruhe kommen, so lange die Machthaber dulden, daß ele¬
mentare psychologische Notwendigkeiten mit Füßen getreten werden. Harmoms
heißt das Geheimnis jeder erfvbn'eichen Politik. Harmonie zwischen den leiblichen
und seelischen Erfordernissen. Wehe dem Land, dessen Lenker eine dieser Forde¬
rungen auf Kosten der anderen pflegt I Nur das Gleichmaß verbürgt dauerndes
Glück, "IVrens sana in corpore s-no" gilt in hervorragendem Maße vom
Volke körper.

Mit dem Sinn dieser Forderungen vergleiche man nun das Ergebnis
unserer kulturellen Entwicklung seit den l>ez!vergange> en zwei Menschenaltern. das
sich durch den industriellen Aufschwung, den kapitalistischen Großbetrieb und durch
dos Aufkommen des modernen Arbeiter- und Angestellienstandes kennzeichnet.
Nach der herrschenden, auch im Gewände der Wissenschafllichkint auftretenden An¬
schauung sollen diese Kräfte, Rückschläge zugestanden, die Menschheit im ganzen
reicher, freier, besser, mit einem Wort also glücklicher gemacht haben. Man stützt
sich zum Beweis für diese Auffassung auf die größere Mannigfaltigkeit der Lebens¬
formen, der Daseinsäußerungen, auf die Reichhaltigkeit der Bedürfnisse sowie der
Mittel zu ihrer Befriedigung, auf die Verkehrserleichterungen, die zahlreiche Be¬
völkerung, die blühenden Großstädte, prächtigen Wohnungen, kräftigere Ernähiung,
auf hygienische, pädagogische, kriminelle Verbesserungen. Diese Fortschritte sollen
nicht verkleinert, dürfen aber auch nicht verallgemeinert werden. Statistische
Nachweise über steigenden Fseischverbrauch widerlegen nicht die Behauptung,
daß unsere Großväter mehr Eier, Giflrigel, Wild. Obst. Milch genossen, also
doch besser lebten als wir. Nicht jedem Großstädter bieten die Verlockungen
der Straße ausreichenden Ersatz für den Verlust eines Eigenheims, das früher
selbstverständlich war! Außerdem: den erwähnten Hinweisen haftet mehr oder
weniger der falsche Nimbus der Zahl an, dieses Abgottes unserer nüchternen


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urteile von ehedem sind gesprengt, die Berufswahl ist freigegeben. Freizügigkeit
herrscht, die Kenntnisse sind gewachsen, der Blick ist geweidet. Aber wir ti'ufm
uns durch die äußeren Veränderungen, die der Sieg des Liberalismus über uns
brachte, den Buel nicht trüben lassen für das, was wir eigentlich erstrebten, was
das Leben allein lebcnswert macht und was in erster Linie nottut, jetzt wie
allezeit. Hüten wir uns besonders,Vor Redensarten wie „Fortschritt, Entwicklung,
Aufstieg", die dem gedankenlosen Lobredner der Gegenwart den Sinn verwirren.
Der von Ideen und Verantwortung erfüllte Politiker erstrebt doch nicht den „Fort¬
schritt", nicht die Entwicklung um der Entwicklung willen. Nach den grausamen
Enttäuschungen, die uns die Steigerung der Produktion, die Entfaltung aller
Kräfte der Natur und des Geistes bereiteten, ist jeder nachdenkliche Mensch zur
Kritik verpflichtet darüber, was es mit diesen Errungenschaften eigentlich ans sich
habe. Im Grunde sind sie nichts weiter als die .Hebel, die Hilfsmittel, vielleicht
vermeidliche oder notwendige Begleitumstands für das eigentliche Ziel jeder ver¬
nünftigen Politik. Dieses Ziel ist ein rein innerliches, rein psychologisches und
heißt: Glück, innere Zufriedenheit der meisten im Staate! Das Glücksgefüh!
hängt allerdings zum Teil ab von den äußeren materiellen Zustünden im Staate,
ober doch nur zur einen Hälfte. Der andere Teil schlummert in den ideellen
Bedürfnissen der Bevölürung, in seinen Vorstellungen und Ansprüchen in bezug
auf Sitte, Recht, Bildung. Religion. Sind diese unbefriedigt, so können die höchste
Wohlhabenheit, die strahlendsten Siege auf wirtschaftlichem, militärischem oder auf
irgend einem anderen materiellen Gebiet den Staat nicht vor Erschütterungen be¬
Waren, wie das Reich Kaiser Wilhelms II zeigt. Diesen inneren Gehalt, die un¬
wägbaren Grundlagen eines jeden Organismus, hat die deutsche Staatskunst seit
je in ihrer Bedeutung verkannt, zugunsten des äußeren technisch wirtschaftlichen
„Fortschritts". Die Schuld unserer Politiker läuft weiter. Sie haben inmernoch
nichts gelernt in der Schule polnischer Erfahrung. Wie die Minister — Staats¬
männer sind es nicht gewesen — Wilhelms II. die sozialen Neichsinteressen
unterschätzten, so setzen sich ihre Nachfolger über nationale Pflichten hinweg
mit cimr Leichtfertigkeit, die wiederum das Schicksal geradezu herausfordert. Das
Reich kann nicht zur Ruhe kommen, so lange die Machthaber dulden, daß ele¬
mentare psychologische Notwendigkeiten mit Füßen getreten werden. Harmoms
heißt das Geheimnis jeder erfvbn'eichen Politik. Harmonie zwischen den leiblichen
und seelischen Erfordernissen. Wehe dem Land, dessen Lenker eine dieser Forde¬
rungen auf Kosten der anderen pflegt I Nur das Gleichmaß verbürgt dauerndes
Glück, „IVrens sana in corpore s-no" gilt in hervorragendem Maße vom
Volke körper.

Mit dem Sinn dieser Forderungen vergleiche man nun das Ergebnis
unserer kulturellen Entwicklung seit den l>ez!vergange> en zwei Menschenaltern. das
sich durch den industriellen Aufschwung, den kapitalistischen Großbetrieb und durch
dos Aufkommen des modernen Arbeiter- und Angestellienstandes kennzeichnet.
Nach der herrschenden, auch im Gewände der Wissenschafllichkint auftretenden An¬
schauung sollen diese Kräfte, Rückschläge zugestanden, die Menschheit im ganzen
reicher, freier, besser, mit einem Wort also glücklicher gemacht haben. Man stützt
sich zum Beweis für diese Auffassung auf die größere Mannigfaltigkeit der Lebens¬
formen, der Daseinsäußerungen, auf die Reichhaltigkeit der Bedürfnisse sowie der
Mittel zu ihrer Befriedigung, auf die Verkehrserleichterungen, die zahlreiche Be¬
völkerung, die blühenden Großstädte, prächtigen Wohnungen, kräftigere Ernähiung,
auf hygienische, pädagogische, kriminelle Verbesserungen. Diese Fortschritte sollen
nicht verkleinert, dürfen aber auch nicht verallgemeinert werden. Statistische
Nachweise über steigenden Fseischverbrauch widerlegen nicht die Behauptung,
daß unsere Großväter mehr Eier, Giflrigel, Wild. Obst. Milch genossen, also
doch besser lebten als wir. Nicht jedem Großstädter bieten die Verlockungen
der Straße ausreichenden Ersatz für den Verlust eines Eigenheims, das früher
selbstverständlich war! Außerdem: den erwähnten Hinweisen haftet mehr oder
weniger der falsche Nimbus der Zahl an, dieses Abgottes unserer nüchternen


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[0416] Aulwrwirtschcift über Wirtschaftspolitik urteile von ehedem sind gesprengt, die Berufswahl ist freigegeben. Freizügigkeit herrscht, die Kenntnisse sind gewachsen, der Blick ist geweidet. Aber wir ti'ufm uns durch die äußeren Veränderungen, die der Sieg des Liberalismus über uns brachte, den Buel nicht trüben lassen für das, was wir eigentlich erstrebten, was das Leben allein lebcnswert macht und was in erster Linie nottut, jetzt wie allezeit. Hüten wir uns besonders,Vor Redensarten wie „Fortschritt, Entwicklung, Aufstieg", die dem gedankenlosen Lobredner der Gegenwart den Sinn verwirren. Der von Ideen und Verantwortung erfüllte Politiker erstrebt doch nicht den „Fort¬ schritt", nicht die Entwicklung um der Entwicklung willen. Nach den grausamen Enttäuschungen, die uns die Steigerung der Produktion, die Entfaltung aller Kräfte der Natur und des Geistes bereiteten, ist jeder nachdenkliche Mensch zur Kritik verpflichtet darüber, was es mit diesen Errungenschaften eigentlich ans sich habe. Im Grunde sind sie nichts weiter als die .Hebel, die Hilfsmittel, vielleicht vermeidliche oder notwendige Begleitumstands für das eigentliche Ziel jeder ver¬ nünftigen Politik. Dieses Ziel ist ein rein innerliches, rein psychologisches und heißt: Glück, innere Zufriedenheit der meisten im Staate! Das Glücksgefüh! hängt allerdings zum Teil ab von den äußeren materiellen Zustünden im Staate, ober doch nur zur einen Hälfte. Der andere Teil schlummert in den ideellen Bedürfnissen der Bevölürung, in seinen Vorstellungen und Ansprüchen in bezug auf Sitte, Recht, Bildung. Religion. Sind diese unbefriedigt, so können die höchste Wohlhabenheit, die strahlendsten Siege auf wirtschaftlichem, militärischem oder auf irgend einem anderen materiellen Gebiet den Staat nicht vor Erschütterungen be¬ Waren, wie das Reich Kaiser Wilhelms II zeigt. Diesen inneren Gehalt, die un¬ wägbaren Grundlagen eines jeden Organismus, hat die deutsche Staatskunst seit je in ihrer Bedeutung verkannt, zugunsten des äußeren technisch wirtschaftlichen „Fortschritts". Die Schuld unserer Politiker läuft weiter. Sie haben inmernoch nichts gelernt in der Schule polnischer Erfahrung. Wie die Minister — Staats¬ männer sind es nicht gewesen — Wilhelms II. die sozialen Neichsinteressen unterschätzten, so setzen sich ihre Nachfolger über nationale Pflichten hinweg mit cimr Leichtfertigkeit, die wiederum das Schicksal geradezu herausfordert. Das Reich kann nicht zur Ruhe kommen, so lange die Machthaber dulden, daß ele¬ mentare psychologische Notwendigkeiten mit Füßen getreten werden. Harmoms heißt das Geheimnis jeder erfvbn'eichen Politik. Harmonie zwischen den leiblichen und seelischen Erfordernissen. Wehe dem Land, dessen Lenker eine dieser Forde¬ rungen auf Kosten der anderen pflegt I Nur das Gleichmaß verbürgt dauerndes Glück, „IVrens sana in corpore s-no" gilt in hervorragendem Maße vom Volke körper. Mit dem Sinn dieser Forderungen vergleiche man nun das Ergebnis unserer kulturellen Entwicklung seit den l>ez!vergange> en zwei Menschenaltern. das sich durch den industriellen Aufschwung, den kapitalistischen Großbetrieb und durch dos Aufkommen des modernen Arbeiter- und Angestellienstandes kennzeichnet. Nach der herrschenden, auch im Gewände der Wissenschafllichkint auftretenden An¬ schauung sollen diese Kräfte, Rückschläge zugestanden, die Menschheit im ganzen reicher, freier, besser, mit einem Wort also glücklicher gemacht haben. Man stützt sich zum Beweis für diese Auffassung auf die größere Mannigfaltigkeit der Lebens¬ formen, der Daseinsäußerungen, auf die Reichhaltigkeit der Bedürfnisse sowie der Mittel zu ihrer Befriedigung, auf die Verkehrserleichterungen, die zahlreiche Be¬ völkerung, die blühenden Großstädte, prächtigen Wohnungen, kräftigere Ernähiung, auf hygienische, pädagogische, kriminelle Verbesserungen. Diese Fortschritte sollen nicht verkleinert, dürfen aber auch nicht verallgemeinert werden. Statistische Nachweise über steigenden Fseischverbrauch widerlegen nicht die Behauptung, daß unsere Großväter mehr Eier, Giflrigel, Wild. Obst. Milch genossen, also doch besser lebten als wir. Nicht jedem Großstädter bieten die Verlockungen der Straße ausreichenden Ersatz für den Verlust eines Eigenheims, das früher selbstverständlich war! Außerdem: den erwähnten Hinweisen haftet mehr oder weniger der falsche Nimbus der Zahl an, dieses Abgottes unserer nüchternen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/416>, abgerufen am 15.05.2024.