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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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versprechen, die sie zwangen, eine Zeitlang an die Spitze des allgemeinen Wahn¬
sinns zu treten und die ihnen infolgedessen die nötige Autorität nahmen. Ge¬
schehene Dinge sind aber schwer ungeschehen zu machen. Man muß daher ein sehr
kurzes Gedächtnis haben, wenn man Churchills Behauptung, England sei weiser
gewesen als seine Nachbarn, beipflichten will. Wir hoffen, daß dies nun der Fall
ist, aber Staatsmänner, die die Arbeiter wegen ihrer Streiks und Aufstände kate-
chisieren, sollten sich ihrer eigenen Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt,
unter denen die Arbeitsbedingungen leiden, erinnern." Deutlich erweist sich hier,
daß auch die beste und erfolgreichste Propaganda ihre Schattenseiten hat. Der
wirtschaftspolitische Teil der Rede Churchills enthielt keinerlei Erkenntnisse, die
man nicht schon zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz gehabt hätte, aber sowohl
in Frankreich wie in England hat man es ans Angst vor den Wählern, und un¬
streitig auch, weil es so viel bequemer war, in der Gloire des "energischen
Patrioten" zu erscheinen, der für sein Land "möglichst viel herausschlägt", unter¬
lassen, der Wahrheit, die allerdings nach dem Kriege und infolge des Krieges,
nicht eben reizvoll war, ins Auge zu sehen. Man überschlage einmal, was ge¬
schehen wäre, wenn die Mächte das in Versailles gemachte Angebot der deutschen
Delegation von 100 Milliarden angenommen Hätten. Wieviel Verhandlungen
wären erspart worden, wieviel Wirrnisse, wieviel Valutasorgen, ganz zu schwei¬
gen von dem Umstand, daß die Franzosen schon im Besitz sehr wesentlicher Zah¬
lungen sein würden, während sie bis jetzt an Bargeld noch nichts erhalten, durch
die Ungeheuerlichkeiten des Friedensvertrages dagegen soviel Unruhe in Deutsch¬
land und soviel Mißtrauen im Auslande gegen die wirtschaftliche Zukunft Deutsch¬
lands hervorgerufen haben, daß die deutsche Valuta in katastrophaler Weise ge¬
sunken und dadurch ganz automatisch und ohne den geringsten bösen Willen Deutsch¬
lands die weiteren Zahlungen als sehr in Frage gestellt erscheinen. Aber das
Geheul, wenn Lloyd George und Clemenceau sich damals mit den 100 Milliarden
begnügt hätten! Woraus sich ergibt, daß auch die Demokratie kein Allheil¬
mittel gegen Gewaltfriedensschlüsse ist. Und wenn das französische Parlament zu
seiner Entschuldigung Clemenceaus Willkürherrschaft anführen sollte, die ihm
eine Kontrolle der Verhandlungen unmöglich gemacht hätte, so braucht man es
nur daran zu erinnern, daß seine Mehrheit 1919 ja noch über Clemenceaus Ziele
hinaus wollte, daß seine hervorragendsten Vertreter die Summen des Londoner
Ultimatums als zu niedrig bekämpfen und daß ihr jetziger Ministerpräsident alle
Hände voll zu tun hat, um es zu einer vernunftgemäßen Auffassung von den
Ausführungsnlöglichkeiten des Friedensvertrages zu überzeugen, was freilich
durch Reden, wie der "Tiger" sie soeben bei der Einweihung seines eigenen Denk¬
mals in Se. Hermine gehalten hat, nicht gerade erleichtert wird.

Es ist merkwürdig, zu beobachten, wie, gerade in Zeiten ausgesprochener De¬
mokratie und Parlameutsherrschaft die Kunst des Regierens zurückgeht. Um
von Deutschland zu schweigen, vergleiche man einmal die Tätigkeit der Männer,
die der sehr aktive Eduard VII. ins Amt brachte, mit der jener, die unter seinem
schwächeren Nachfolger ans Nuder kamen, wobei man keineswegs nur die Zeit
nach dem Kriege ins Auge zu fassen braucht. Dort kenntnisreiche, erfahrene und
durchknltivierte Persönlichkeiten mit Initiative und Intuition, hier mehr oder
weniger glückliche Dilettanten, denen bei allen Dingen in erster Linie daran ge¬
legen ist, um der weiteren Karriere willen ihre Verantwortlichkeit zu verschleiern.
Ein Schulbeispiel dieser Art bildet der jetzige Ministerpräsident Frankreichs. Mit
äußerster Vorsicht und schonendster Zuvorkommenheit läßt er sich vor jeder neuen
Konferenz das Vertrauen seiner Kammer bestätigen (die kurz vor derartigen Veran¬
staltungen gar nicht anders kann), lehnt jedoch regelmäßig -- wie billig -- Bedingun¬
gen im einzelnen ab, behauptet daun aber jedesmal uach vollzogener Tatsache, in
seinen Entschlüssen durch die Verhandlungen seiner Vorgänger gebunden gewesen
zu sein,' und wenn die Kammer nicht diese Vorgänger, und damit wieder ihre
eigene Arbeit selbst desavouieren will, kann sie nicht anders, als ihrem Mandan¬
ten wohl oder übel wieder aufs neue zuzustimmen. Wer ist nun verantwortlich?


versprechen, die sie zwangen, eine Zeitlang an die Spitze des allgemeinen Wahn¬
sinns zu treten und die ihnen infolgedessen die nötige Autorität nahmen. Ge¬
schehene Dinge sind aber schwer ungeschehen zu machen. Man muß daher ein sehr
kurzes Gedächtnis haben, wenn man Churchills Behauptung, England sei weiser
gewesen als seine Nachbarn, beipflichten will. Wir hoffen, daß dies nun der Fall
ist, aber Staatsmänner, die die Arbeiter wegen ihrer Streiks und Aufstände kate-
chisieren, sollten sich ihrer eigenen Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt,
unter denen die Arbeitsbedingungen leiden, erinnern." Deutlich erweist sich hier,
daß auch die beste und erfolgreichste Propaganda ihre Schattenseiten hat. Der
wirtschaftspolitische Teil der Rede Churchills enthielt keinerlei Erkenntnisse, die
man nicht schon zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz gehabt hätte, aber sowohl
in Frankreich wie in England hat man es ans Angst vor den Wählern, und un¬
streitig auch, weil es so viel bequemer war, in der Gloire des „energischen
Patrioten" zu erscheinen, der für sein Land „möglichst viel herausschlägt", unter¬
lassen, der Wahrheit, die allerdings nach dem Kriege und infolge des Krieges,
nicht eben reizvoll war, ins Auge zu sehen. Man überschlage einmal, was ge¬
schehen wäre, wenn die Mächte das in Versailles gemachte Angebot der deutschen
Delegation von 100 Milliarden angenommen Hätten. Wieviel Verhandlungen
wären erspart worden, wieviel Wirrnisse, wieviel Valutasorgen, ganz zu schwei¬
gen von dem Umstand, daß die Franzosen schon im Besitz sehr wesentlicher Zah¬
lungen sein würden, während sie bis jetzt an Bargeld noch nichts erhalten, durch
die Ungeheuerlichkeiten des Friedensvertrages dagegen soviel Unruhe in Deutsch¬
land und soviel Mißtrauen im Auslande gegen die wirtschaftliche Zukunft Deutsch¬
lands hervorgerufen haben, daß die deutsche Valuta in katastrophaler Weise ge¬
sunken und dadurch ganz automatisch und ohne den geringsten bösen Willen Deutsch¬
lands die weiteren Zahlungen als sehr in Frage gestellt erscheinen. Aber das
Geheul, wenn Lloyd George und Clemenceau sich damals mit den 100 Milliarden
begnügt hätten! Woraus sich ergibt, daß auch die Demokratie kein Allheil¬
mittel gegen Gewaltfriedensschlüsse ist. Und wenn das französische Parlament zu
seiner Entschuldigung Clemenceaus Willkürherrschaft anführen sollte, die ihm
eine Kontrolle der Verhandlungen unmöglich gemacht hätte, so braucht man es
nur daran zu erinnern, daß seine Mehrheit 1919 ja noch über Clemenceaus Ziele
hinaus wollte, daß seine hervorragendsten Vertreter die Summen des Londoner
Ultimatums als zu niedrig bekämpfen und daß ihr jetziger Ministerpräsident alle
Hände voll zu tun hat, um es zu einer vernunftgemäßen Auffassung von den
Ausführungsnlöglichkeiten des Friedensvertrages zu überzeugen, was freilich
durch Reden, wie der „Tiger" sie soeben bei der Einweihung seines eigenen Denk¬
mals in Se. Hermine gehalten hat, nicht gerade erleichtert wird.

Es ist merkwürdig, zu beobachten, wie, gerade in Zeiten ausgesprochener De¬
mokratie und Parlameutsherrschaft die Kunst des Regierens zurückgeht. Um
von Deutschland zu schweigen, vergleiche man einmal die Tätigkeit der Männer,
die der sehr aktive Eduard VII. ins Amt brachte, mit der jener, die unter seinem
schwächeren Nachfolger ans Nuder kamen, wobei man keineswegs nur die Zeit
nach dem Kriege ins Auge zu fassen braucht. Dort kenntnisreiche, erfahrene und
durchknltivierte Persönlichkeiten mit Initiative und Intuition, hier mehr oder
weniger glückliche Dilettanten, denen bei allen Dingen in erster Linie daran ge¬
legen ist, um der weiteren Karriere willen ihre Verantwortlichkeit zu verschleiern.
Ein Schulbeispiel dieser Art bildet der jetzige Ministerpräsident Frankreichs. Mit
äußerster Vorsicht und schonendster Zuvorkommenheit läßt er sich vor jeder neuen
Konferenz das Vertrauen seiner Kammer bestätigen (die kurz vor derartigen Veran¬
staltungen gar nicht anders kann), lehnt jedoch regelmäßig — wie billig — Bedingun¬
gen im einzelnen ab, behauptet daun aber jedesmal uach vollzogener Tatsache, in
seinen Entschlüssen durch die Verhandlungen seiner Vorgänger gebunden gewesen
zu sein,' und wenn die Kammer nicht diese Vorgänger, und damit wieder ihre
eigene Arbeit selbst desavouieren will, kann sie nicht anders, als ihrem Mandan¬
ten wohl oder übel wieder aufs neue zuzustimmen. Wer ist nun verantwortlich?


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[0068] versprechen, die sie zwangen, eine Zeitlang an die Spitze des allgemeinen Wahn¬ sinns zu treten und die ihnen infolgedessen die nötige Autorität nahmen. Ge¬ schehene Dinge sind aber schwer ungeschehen zu machen. Man muß daher ein sehr kurzes Gedächtnis haben, wenn man Churchills Behauptung, England sei weiser gewesen als seine Nachbarn, beipflichten will. Wir hoffen, daß dies nun der Fall ist, aber Staatsmänner, die die Arbeiter wegen ihrer Streiks und Aufstände kate- chisieren, sollten sich ihrer eigenen Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt, unter denen die Arbeitsbedingungen leiden, erinnern." Deutlich erweist sich hier, daß auch die beste und erfolgreichste Propaganda ihre Schattenseiten hat. Der wirtschaftspolitische Teil der Rede Churchills enthielt keinerlei Erkenntnisse, die man nicht schon zur Zeit der Pariser Friedenskonferenz gehabt hätte, aber sowohl in Frankreich wie in England hat man es ans Angst vor den Wählern, und un¬ streitig auch, weil es so viel bequemer war, in der Gloire des „energischen Patrioten" zu erscheinen, der für sein Land „möglichst viel herausschlägt", unter¬ lassen, der Wahrheit, die allerdings nach dem Kriege und infolge des Krieges, nicht eben reizvoll war, ins Auge zu sehen. Man überschlage einmal, was ge¬ schehen wäre, wenn die Mächte das in Versailles gemachte Angebot der deutschen Delegation von 100 Milliarden angenommen Hätten. Wieviel Verhandlungen wären erspart worden, wieviel Wirrnisse, wieviel Valutasorgen, ganz zu schwei¬ gen von dem Umstand, daß die Franzosen schon im Besitz sehr wesentlicher Zah¬ lungen sein würden, während sie bis jetzt an Bargeld noch nichts erhalten, durch die Ungeheuerlichkeiten des Friedensvertrages dagegen soviel Unruhe in Deutsch¬ land und soviel Mißtrauen im Auslande gegen die wirtschaftliche Zukunft Deutsch¬ lands hervorgerufen haben, daß die deutsche Valuta in katastrophaler Weise ge¬ sunken und dadurch ganz automatisch und ohne den geringsten bösen Willen Deutsch¬ lands die weiteren Zahlungen als sehr in Frage gestellt erscheinen. Aber das Geheul, wenn Lloyd George und Clemenceau sich damals mit den 100 Milliarden begnügt hätten! Woraus sich ergibt, daß auch die Demokratie kein Allheil¬ mittel gegen Gewaltfriedensschlüsse ist. Und wenn das französische Parlament zu seiner Entschuldigung Clemenceaus Willkürherrschaft anführen sollte, die ihm eine Kontrolle der Verhandlungen unmöglich gemacht hätte, so braucht man es nur daran zu erinnern, daß seine Mehrheit 1919 ja noch über Clemenceaus Ziele hinaus wollte, daß seine hervorragendsten Vertreter die Summen des Londoner Ultimatums als zu niedrig bekämpfen und daß ihr jetziger Ministerpräsident alle Hände voll zu tun hat, um es zu einer vernunftgemäßen Auffassung von den Ausführungsnlöglichkeiten des Friedensvertrages zu überzeugen, was freilich durch Reden, wie der „Tiger" sie soeben bei der Einweihung seines eigenen Denk¬ mals in Se. Hermine gehalten hat, nicht gerade erleichtert wird. Es ist merkwürdig, zu beobachten, wie, gerade in Zeiten ausgesprochener De¬ mokratie und Parlameutsherrschaft die Kunst des Regierens zurückgeht. Um von Deutschland zu schweigen, vergleiche man einmal die Tätigkeit der Männer, die der sehr aktive Eduard VII. ins Amt brachte, mit der jener, die unter seinem schwächeren Nachfolger ans Nuder kamen, wobei man keineswegs nur die Zeit nach dem Kriege ins Auge zu fassen braucht. Dort kenntnisreiche, erfahrene und durchknltivierte Persönlichkeiten mit Initiative und Intuition, hier mehr oder weniger glückliche Dilettanten, denen bei allen Dingen in erster Linie daran ge¬ legen ist, um der weiteren Karriere willen ihre Verantwortlichkeit zu verschleiern. Ein Schulbeispiel dieser Art bildet der jetzige Ministerpräsident Frankreichs. Mit äußerster Vorsicht und schonendster Zuvorkommenheit läßt er sich vor jeder neuen Konferenz das Vertrauen seiner Kammer bestätigen (die kurz vor derartigen Veran¬ staltungen gar nicht anders kann), lehnt jedoch regelmäßig — wie billig — Bedingun¬ gen im einzelnen ab, behauptet daun aber jedesmal uach vollzogener Tatsache, in seinen Entschlüssen durch die Verhandlungen seiner Vorgänger gebunden gewesen zu sein,' und wenn die Kammer nicht diese Vorgänger, und damit wieder ihre eigene Arbeit selbst desavouieren will, kann sie nicht anders, als ihrem Mandan¬ ten wohl oder übel wieder aufs neue zuzustimmen. Wer ist nun verantwortlich?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/68>, abgerufen am 15.05.2024.