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Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822.

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I. mittelniederdeutsche vocale.
Herb. 37a; spern:nern, wern En. 84c 87c; werken:
merken En. 12c 43a 71c Herb. 1b 12c 87b:sterken En.
43b 88a livl. chron. 52a; vechte:geslechte Herb. 51d;
krechten (viribus):vechten, gandersh. 169a lesten:kesten
Bruns 53. Wenn nun in diesen belegen keine bloße
reimnoth, sondern wirkliche vermengung der e, e und
i waltet, welcher laut siegte alsdann? sprach man die e
wie e aus oder die e wie e? Im mittelh. s. 334. vermu-
thete ich beides; hier scheint mir der e laut allgemei-
ner zu gelten, weil offenbare e sich mit dem noch i
geschriebenen e verbinden (senden:winden etc.) im
niederländ. sogar selbst zu i werden (ingel f. engel,
scinken f. schenken). In den obigen beispielen würde
man also enseve, negele, rede etc. schreiben können,
welches ich zu weiterer prüfung aufstelle. Vorläufig be-
halte ich die unterscheidung e und e nach ihrem ur-
sprung bei.

(I) wie eben ausgeführt, beschränkter, als im mit-
telh.; ja es fragt sich: ob nicht durchall e dafür zu
setzen ist? Auf die hochd. schreiber, welche ihr i ein-
schwärzen, wäre nichts zu geben; da der reim menne
(amor) godenne (dea) senne (sensus) mit kenne (nosco)
verbindet, wird man auch senne, menne, godenne
schreiben dürfen, wenn kein reim dazu nöthigt. Analog
ist die verdrängung des u durch o. Wenigstens wüste
ich keine regel zu entwickeln, die das i und u gewissen
fällen vorbehielte, leugne aber nicht, daß Veld. sybille,
camille nur auf wille, stille, nie auf phelle, geselle,
heHe etc. reimt. Er scheint folglich i vor ll mehr zu
hegen, als vor nn. -- Zuweilen nähert sich das ursprüng-
liche i dem ü, wie noch in heutigen volksmundarten
i, ü, ö wechseln, vgl. kinde:sünde (gandersh. 151a)
müschen:twischen, plücken:schicken (Mor. 50a. b.).

(O) gleich dem e ausgedehnter, als im mittelh. und
in wörtern üblich, wo letzteres noch u behauptet, z. b.
worven (mittelh. wurben) dornein (spineus) goldin (au-
reus). Beweisend sind reime wie son:gewon Herb.
111d; dor (porta): vor En. 19b; hold:scold En. 16c 17a
wolde:scolde (culpam) En. 1a etc.; bogen (arcubus):
vlogen (volabant) En. 89b; mochte (valuit): dochte (vi-
debatur) En. 3a 34b 35c 48c 78c Herb. 17d; dochte:on-
tochte (dedecoris) En. 33a; mochte:dochte (profuit)
En. 2[1]a; mochte:tochte (traxit) Herb. 33b 46b; mochten:
vlochten (fugere) En. 89c; gorde (cinxit):borde En. 13c

I. mittelniederdeutſche vocale.
Herb. 37a; ſpërn:nern, wern En. 84c 87c; wërken:
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43b 88a livl. chron. 52a; vëchte:geſlechte Herb. 51d;
krechten (viribus):vëchten, gandersh. 169a leſten:këſten
Bruns 53. Wenn nun in dieſen belegen keine bloße
reimnoth, ſondern wirkliche vermengung der e, ë und
i waltet, welcher laut ſiegte alsdann? ſprach man die ë
wie e aus oder die e wie ë? Im mittelh. ſ. 334. vermu-
thete ich beides; hier ſcheint mir der ë laut allgemei-
ner zu gelten, weil offenbare e ſich mit dem noch i
geſchriebenen ë verbinden (ſenden:winden etc.) im
niederländ. ſogar ſelbſt zu i werden (ingel f. engel,
ſcinken f. ſchenken). In den obigen beiſpielen würde
man alſo enſëve, nëgele, rëde etc. ſchreiben können,
welches ich zu weiterer prüfung aufſtelle. Vorläufig be-
halte ich die unterſcheidung e und ë nach ihrem ur-
ſprung bei.

(I) wie eben ausgeführt, beſchränkter, als im mit-
telh.; ja es fragt ſich: ob nicht durchall ë dafür zu
ſetzen iſt? Auf die hochd. ſchreiber, welche ihr i ein-
ſchwärzen, wäre nichts zu geben; da der reim mënne
(amor) godënne (dea) ſënne (ſenſus) mit kënne (noſco)
verbindet, wird man auch ſënne, mënne, godënne
ſchreiben dürfen, wenn kein reim dazu nöthigt. Analog
iſt die verdrängung des u durch o. Wenigſtens wüſte
ich keine regel zu entwickeln, die das i und u gewiſſen
fällen vorbehielte, leugne aber nicht, daß Veld. ſybille,
camille nur auf wille, ſtille, nie auf phëlle, geſelle,
heHe etc. reimt. Er ſcheint folglich i vor ll mehr zu
hegen, als vor nn. — Zuweilen nähert ſich das urſprüng-
liche i dem ü, wie noch in heutigen volksmundarten
i, ü, ö wechſeln, vgl. kinde:ſünde (gandersh. 151a)
müſchen:twiſchen, plücken:ſchicken (Mor. 50a. b.).

(O) gleich dem ë ausgedehnter, als im mittelh. und
in wörtern üblich, wo letzteres noch u behauptet, z. b.
worven (mittelh. wurben) dornîn (ſpineus) goldìn (au-
reus). Beweiſend ſind reime wie ſon:gewon Herb.
111d; dor (porta): vor En. 19b; hold:ſcold En. 16c 17a
wolde:ſcolde (culpam) En. 1a etc.; bogen (arcubus):
vlogen (volabant) En. 89b; mochte (valuit): dochte (vi-
debatur) En. 3a 34b 35c 48c 78c Herb. 17d; dochte:on-
tochte (dedecoris) En. 33a; mochte:dochte (profuit)
En. 2[1]a; mochte:tochte (traxit) Herb. 33b 46b; mochten:
vlochten (fugere) En. 89c; gorde (cinxit):borde En. 13c

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[457/0483] I. mittelniederdeutſche vocale. Herb. 37a; ſpërn:nern, wern En. 84c 87c; wërken: merken En. 12c 43a 71c Herb. 1b 12c 87b:ſterken En. 43b 88a livl. chron. 52a; vëchte:geſlechte Herb. 51d; krechten (viribus):vëchten, gandersh. 169a leſten:këſten Bruns 53. Wenn nun in dieſen belegen keine bloße reimnoth, ſondern wirkliche vermengung der e, ë und i waltet, welcher laut ſiegte alsdann? ſprach man die ë wie e aus oder die e wie ë? Im mittelh. ſ. 334. vermu- thete ich beides; hier ſcheint mir der ë laut allgemei- ner zu gelten, weil offenbare e ſich mit dem noch i geſchriebenen ë verbinden (ſenden:winden etc.) im niederländ. ſogar ſelbſt zu i werden (ingel f. engel, ſcinken f. ſchenken). In den obigen beiſpielen würde man alſo enſëve, nëgele, rëde etc. ſchreiben können, welches ich zu weiterer prüfung aufſtelle. Vorläufig be- halte ich die unterſcheidung e und ë nach ihrem ur- ſprung bei. (I) wie eben ausgeführt, beſchränkter, als im mit- telh.; ja es fragt ſich: ob nicht durchall ë dafür zu ſetzen iſt? Auf die hochd. ſchreiber, welche ihr i ein- ſchwärzen, wäre nichts zu geben; da der reim mënne (amor) godënne (dea) ſënne (ſenſus) mit kënne (noſco) verbindet, wird man auch ſënne, mënne, godënne ſchreiben dürfen, wenn kein reim dazu nöthigt. Analog iſt die verdrängung des u durch o. Wenigſtens wüſte ich keine regel zu entwickeln, die das i und u gewiſſen fällen vorbehielte, leugne aber nicht, daß Veld. ſybille, camille nur auf wille, ſtille, nie auf phëlle, geſelle, heHe etc. reimt. Er ſcheint folglich i vor ll mehr zu hegen, als vor nn. — Zuweilen nähert ſich das urſprüng- liche i dem ü, wie noch in heutigen volksmundarten i, ü, ö wechſeln, vgl. kinde:ſünde (gandersh. 151a) müſchen:twiſchen, plücken:ſchicken (Mor. 50a. b.). (O) gleich dem ë ausgedehnter, als im mittelh. und in wörtern üblich, wo letzteres noch u behauptet, z. b. worven (mittelh. wurben) dornîn (ſpineus) goldìn (au- reus). Beweiſend ſind reime wie ſon:gewon Herb. 111d; dor (porta): vor En. 19b; hold:ſcold En. 16c 17a wolde:ſcolde (culpam) En. 1a etc.; bogen (arcubus): vlogen (volabant) En. 89b; mochte (valuit): dochte (vi- debatur) En. 3a 34b 35c 48c 78c Herb. 17d; dochte:on- tochte (dedecoris) En. 33a; mochte:dochte (profuit) En. 21a; mochte:tochte (traxit) Herb. 33b 46b; mochten: vlochten (fugere) En. 89c; gorde (cinxit):borde En. 13c

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Zitationshilfe: Grimm, Jacob: Deutsche Grammatik. Bd. 1. Göttingen, 1822, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_grammatik01_1822/483>, abgerufen am 17.06.2024.