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Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819.

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"Ja, antwortete Zweiäuglein, das will ich wohl können, denn der Baum gehört mir" und stieg hinauf und brach mit leichter Mühe einen Zweig mit seinen silbernen Blättern und goldenen Früchten ab und gab ihn dem Ritter. Da sprach der Ritter: "Zweiäuglein, was soll ich dir dafür geben?" "Ach, antwortete Zweiäuglein, ich leide an Hunger und Durst, Kummer und Noth vom Morgen bis zum Abend, wenn ihr mich mitnehmen und erlösen wollt, so wär ich glücklich." Da hob der Ritter das Zweiäuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein väterliches Schloß, dort gab er ihm schöne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen und ward die Hochzeit in großer Freude gehalten.

Wie nun Zweiäuglein so von dem schönen Rittersmann fortgeführt wurde, da waren die zwei Schwestern recht neidisch über sein Glück. "Nun, der wunderbare Baum bleibt uns, dachten sie, können wir auch keine Früchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehen bleiben, zu uns kommen und ihn rühmen; wer weiß, was uns noch für ein Glück blüht." Aber am andern Morgen war der Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin; und wie Zweiäuglein zu seinem Kämmerlein hinaussah, so stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgegangen.

Zweiäuglein lebte lange Zeit vergnügt, da kamen einmal zwei arme Frauen auf ihr Schloß und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiäuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einäuglein und Dreiäuglein, die so in Armuth gerathen waren, daß sie umherziehen und vor den Thüren ihr Brot suchen mußten.

„Ja, antwortete Zweiaͤuglein, das will ich wohl koͤnnen, denn der Baum gehoͤrt mir“ und stieg hinauf und brach mit leichter Muͤhe einen Zweig mit seinen silbernen Blaͤttern und goldenen Fruͤchten ab und gab ihn dem Ritter. Da sprach der Ritter: „Zweiaͤuglein, was soll ich dir dafuͤr geben?“ „Ach, antwortete Zweiaͤuglein, ich leide an Hunger und Durst, Kummer und Noth vom Morgen bis zum Abend, wenn ihr mich mitnehmen und erloͤsen wollt, so waͤr ich gluͤcklich.“ Da hob der Ritter das Zweiaͤuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein vaͤterliches Schloß, dort gab er ihm schoͤne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen und ward die Hochzeit in großer Freude gehalten.

Wie nun Zweiaͤuglein so von dem schoͤnen Rittersmann fortgefuͤhrt wurde, da waren die zwei Schwestern recht neidisch uͤber sein Gluͤck. „Nun, der wunderbare Baum bleibt uns, dachten sie, koͤnnen wir auch keine Fruͤchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehen bleiben, zu uns kommen und ihn ruͤhmen; wer weiß, was uns noch fuͤr ein Gluͤck bluͤht.“ Aber am andern Morgen war der Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin; und wie Zweiaͤuglein zu seinem Kaͤmmerlein hinaussah, so stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgegangen.

Zweiaͤuglein lebte lange Zeit vergnuͤgt, da kamen einmal zwei arme Frauen auf ihr Schloß und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiaͤuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einaͤuglein und Dreiaͤuglein, die so in Armuth gerathen waren, daß sie umherziehen und vor den Thuͤren ihr Brot suchen mußten.

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[221/0299] „Ja, antwortete Zweiaͤuglein, das will ich wohl koͤnnen, denn der Baum gehoͤrt mir“ und stieg hinauf und brach mit leichter Muͤhe einen Zweig mit seinen silbernen Blaͤttern und goldenen Fruͤchten ab und gab ihn dem Ritter. Da sprach der Ritter: „Zweiaͤuglein, was soll ich dir dafuͤr geben?“ „Ach, antwortete Zweiaͤuglein, ich leide an Hunger und Durst, Kummer und Noth vom Morgen bis zum Abend, wenn ihr mich mitnehmen und erloͤsen wollt, so waͤr ich gluͤcklich.“ Da hob der Ritter das Zweiaͤuglein auf sein Pferd und brachte es heim auf sein vaͤterliches Schloß, dort gab er ihm schoͤne Kleider, Essen und Trinken nach Herzenslust, und weil er es so lieb hatte, ließ er sich mit ihm einsegnen und ward die Hochzeit in großer Freude gehalten. Wie nun Zweiaͤuglein so von dem schoͤnen Rittersmann fortgefuͤhrt wurde, da waren die zwei Schwestern recht neidisch uͤber sein Gluͤck. „Nun, der wunderbare Baum bleibt uns, dachten sie, koͤnnen wir auch keine Fruͤchte davon brechen, so wird doch jedermann davor stehen bleiben, zu uns kommen und ihn ruͤhmen; wer weiß, was uns noch fuͤr ein Gluͤck bluͤht.“ Aber am andern Morgen war der Baum verschwunden und ihre Hoffnung dahin; und wie Zweiaͤuglein zu seinem Kaͤmmerlein hinaussah, so stand er zu seiner großen Freude davor und war ihm also nachgegangen. Zweiaͤuglein lebte lange Zeit vergnuͤgt, da kamen einmal zwei arme Frauen auf ihr Schloß und baten um ein Almosen. Da sah ihnen Zweiaͤuglein ins Gesicht und erkannte ihre Schwestern Einaͤuglein und Dreiaͤuglein, die so in Armuth gerathen waren, daß sie umherziehen und vor den Thuͤren ihr Brot suchen mußten.

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Anmerkungen zur Transkription:

Zusätzlich zu dieser historischen Ausgabe gibt es in der 2004 von Prof. Hans-Jörg Uther herausgegebenen und im Olms-Verlag erschienenen Ausgabe (ISBN 978-3-487-12546-6) in Bd. 2, S. 305–308 ein Wörterverzeichnis mit Begriffserläuterungen.




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Zitationshilfe: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm: Kinder- und Haus-Märchen. 2. Aufl. Bd. 2. Berlin, 1819, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grimm_maerchen02_1819/299>, abgerufen am 29.04.2024.