Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

ihren ersten Priester thut! Jede allgemeine,
jede Weltreligion muß unabhängig von irgend
einem Namen sein, und im Christenthum ist
man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott,
welche Jesu gebührt. Welch ein Glaube! Wir
sind nicht ohne Poesie, wir schwärmen gern,
weil wir in jedem Hauche der Natur einen
Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht
unglücklich sein, wenn wir nicht zuweilen auf
unsern herben Lebenswein ein Rosenblatt der
Illusion legen dürften, ein Rosenblatt, das uns
in den Mund kömmt und zu trinken hindert,
und das wir doch nicht missen möchten. Aber
hier überschreitet eine Zumuthung die Linie des
Erträglichen. Das Christenthum wurzele nicht
in Jesu Lehre, sondern in seinem Leben: nicht
die Liebe sei es, sagen sie, die er im Abend¬
mahle eingesetzt habe, sondern sein Fleisch und
Blut, seine eigne Persönlichkeit, die nun im¬
merdar solle gegessen und getrunken werden.

ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine,
jede Weltreligion muß unabhängig von irgend
einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt
man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott,
welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir
ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern,
weil wir in jedem Hauche der Natur einen
Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht
unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf
unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der
Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns
in den Mund kömmt und zu trinken hindert,
und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber
hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des
Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht
in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht
die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬
mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und
Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬
merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0289" n="282[280]"/>
ihren er&#x017F;ten Prie&#x017F;ter thut! Jede allgemeine,<lb/>
jede Weltreligion muß unabhängig von irgend<lb/>
einem Namen &#x017F;ein, und im Chri&#x017F;tenthum i&#x017F;t<lb/>
man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott,<lb/>
welche Je&#x017F;u gebührt. Welch ein Glaube! Wir<lb/>
&#x017F;ind nicht ohne Poe&#x017F;ie, wir &#x017F;chwärmen gern,<lb/>
weil wir in jedem Hauche der Natur einen<lb/>
Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht<lb/>
unglücklich &#x017F;ein, wenn wir nicht zuweilen auf<lb/>
un&#x017F;ern herben Lebenswein ein Ro&#x017F;enblatt der<lb/>
Illu&#x017F;ion legen dürften, ein Ro&#x017F;enblatt, das uns<lb/>
in den Mund kömmt und zu trinken hindert,<lb/>
und das wir doch nicht mi&#x017F;&#x017F;en möchten. Aber<lb/>
hier über&#x017F;chreitet eine Zumuthung die Linie des<lb/>
Erträglichen. Das Chri&#x017F;tenthum wurzele nicht<lb/>
in Je&#x017F;u Lehre, &#x017F;ondern in &#x017F;einem Leben: nicht<lb/>
die Liebe &#x017F;ei es, &#x017F;agen &#x017F;ie, die er im Abend¬<lb/>
mahle einge&#x017F;etzt habe, &#x017F;ondern &#x017F;ein Flei&#x017F;ch und<lb/>
Blut, &#x017F;eine eigne Per&#x017F;önlichkeit, die nun im¬<lb/>
merdar &#x017F;olle gege&#x017F;&#x017F;en und getrunken werden.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282[280]/0289] ihren erſten Prieſter thut! Jede allgemeine, jede Weltreligion muß unabhängig von irgend einem Namen ſein, und im Chriſtenthum iſt man heute noch nicht einig, welche Ehre Gott, welche Jeſu gebührt. Welch ein Glaube! Wir ſind nicht ohne Poeſie, wir ſchwärmen gern, weil wir in jedem Hauche der Natur einen Kuß der Gottheit wähnen, und würden recht unglücklich ſein, wenn wir nicht zuweilen auf unſern herben Lebenswein ein Roſenblatt der Illuſion legen dürften, ein Roſenblatt, das uns in den Mund kömmt und zu trinken hindert, und das wir doch nicht miſſen möchten. Aber hier überſchreitet eine Zumuthung die Linie des Erträglichen. Das Chriſtenthum wurzele nicht in Jeſu Lehre, ſondern in ſeinem Leben: nicht die Liebe ſei es, ſagen ſie, die er im Abend¬ mahle eingeſetzt habe, ſondern ſein Fleiſch und Blut, ſeine eigne Perſönlichkeit, die nun im¬ merdar ſolle gegeſſen und getrunken werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/289
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 282[280]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/289>, abgerufen am 28.04.2024.