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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

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mus hielt sich an die Unmöglichkeit, das Ding
an sich zu erkennen; der Supernaturalismus
an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge
an sich liegen konnten. Das Ding an sich war
eben so sehr negativ, wie mystisch positiv: das
weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben so
gut, wie das Chaos der Gefühle. Diese bei¬
den Prinzipien über Christenthum machten fünf¬
zehn Jahre in Deutschland die Tagesordnung
aus. Es war ein Streit um den Anfang ei¬
nes Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott
behauptete, daß man vieles von seinem Wesen
wisse, manches aber noch unerörtert zu lassen
habe, begann mit dem Bestimmten und hörte
mit dem Unbestimmten auf. Der Supernatu¬
ralismus, der aus seinen Ahnungen ein Sy¬
stem, aus seinen Ungewißheiten eine Dogmatik
schuf, fing mit dem Unbestimmten an und hörte
mit dem Gegentheile auf. So war der Streit
ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat

mus hielt ſich an die Unmöglichkeit, das Ding
an ſich zu erkennen; der Supernaturalismus
an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge
an ſich liegen konnten. Das Ding an ſich war
eben ſo ſehr negativ, wie myſtiſch poſitiv: das
weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben ſo
gut, wie das Chaos der Gefühle. Dieſe bei¬
den Prinzipien über Chriſtenthum machten fünf¬
zehn Jahre in Deutſchland die Tagesordnung
aus. Es war ein Streit um den Anfang ei¬
nes Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott
behauptete, daß man vieles von ſeinem Weſen
wiſſe, manches aber noch unerörtert zu laſſen
habe, begann mit dem Beſtimmten und hörte
mit dem Unbeſtimmten auf. Der Supernatu¬
ralismus, der aus ſeinen Ahnungen ein Sy¬
ſtem, aus ſeinen Ungewißheiten eine Dogmatik
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mit dem Gegentheile auf. So war der Streit
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[296[294]/0303] mus hielt ſich an die Unmöglichkeit, das Ding an ſich zu erkennen; der Supernaturalismus an die Vermuthungen, welche hinter dem Dinge an ſich liegen konnten. Das Ding an ſich war eben ſo ſehr negativ, wie myſtiſch poſitiv: das weite Chaos der Zweifel lag in ihm eben ſo gut, wie das Chaos der Gefühle. Dieſe bei¬ den Prinzipien über Chriſtenthum machten fünf¬ zehn Jahre in Deutſchland die Tagesordnung aus. Es war ein Streit um den Anfang ei¬ nes Cirkels. Der Rationalismus, der von Gott behauptete, daß man vieles von ſeinem Weſen wiſſe, manches aber noch unerörtert zu laſſen habe, begann mit dem Beſtimmten und hörte mit dem Unbeſtimmten auf. Der Supernatu¬ ralismus, der aus ſeinen Ahnungen ein Sy¬ ſtem, aus ſeinen Ungewißheiten eine Dogmatik ſchuf, fing mit dem Unbeſtimmten an und hörte mit dem Gegentheile auf. So war der Streit ohne des Endes Möglichkeit. Niemand trat

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 296[294]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/303>, abgerufen am 27.04.2024.