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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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seinen Söhnen, ob auch die Sonne den trüben Glanz des Mondes annehmen möge, und die Erde wie das Laub des Waldes zittre: eine Wahrheit wird nicht untergehen, die, daß zweimal zwei gleich vier ist!

Der gute Greis! Er hat Recht; aber wenn er in unsern Tagen lebte, wer weiß, ob er seines Glaubens noch so felsengewiß wäre. Er kennt Sir Thomas nicht, einen Gentleman, den ich nur mit seinem Taufnamen nenne, weil er selbst daran zweifelt, ob sein Vatername der rechte sey. Dieser Gentleman hält Nichts für gewiß, aber Alles für wahrscheinlich. Er ist auf diese wunderliche Vorstellung erst seitdem gekommen, daß er sich mit der Physik zu beschäftigen anfing. Die ewige Metamorphose des chemischen Prozesses verwirrte seine Vorstellungen; besonders erhielt seine gesunde Vernunft in dem Augenblicke einen empfindlichen Stoß, wo er hörte, daß der menschliche Körper in jedem Momente ebenso sehr nicht da ist, als er da ist, daß er fortwährend sich verzehre und sich wieder ersetze, daß er Conglomerat von zahllosen kleinen Atomenkügelchen wäre, die nur den Schein des Zusammenhanges hätten. Seither sind alle seine Begriffe in eine solche Unbestimmtheit übergegangen, daß er in einer überheißen Stube vor Frost zittert, daß er mit seiner Devise "Nichts Gewisses weiß man nicht," die ausgemachtesten Dinge in Abrede stellt. Weil er alle Dinge für möglich hält, so streitet er allen ihre natürlichen Eigenschaften ab. Er würde es auffallend finden, wenn Jemand daran zweifelte, daß in Zukunft die

seinen Söhnen, ob auch die Sonne den trüben Glanz des Mondes annehmen möge, und die Erde wie das Laub des Waldes zittre: eine Wahrheit wird nicht untergehen, die, daß zweimal zwei gleich vier ist!

Der gute Greis! Er hat Recht; aber wenn er in unsern Tagen lebte, wer weiß, ob er seines Glaubens noch so felsengewiß wäre. Er kennt Sir Thomas nicht, einen Gentleman, den ich nur mit seinem Taufnamen nenne, weil er selbst daran zweifelt, ob sein Vatername der rechte sey. Dieser Gentleman hält Nichts für gewiß, aber Alles für wahrscheinlich. Er ist auf diese wunderliche Vorstellung erst seitdem gekommen, daß er sich mit der Physik zu beschäftigen anfing. Die ewige Metamorphose des chemischen Prozesses verwirrte seine Vorstellungen; besonders erhielt seine gesunde Vernunft in dem Augenblicke einen empfindlichen Stoß, wo er hörte, daß der menschliche Körper in jedem Momente ebenso sehr nicht da ist, als er da ist, daß er fortwährend sich verzehre und sich wieder ersetze, daß er Conglomerat von zahllosen kleinen Atomenkügelchen wäre, die nur den Schein des Zusammenhanges hätten. Seither sind alle seine Begriffe in eine solche Unbestimmtheit übergegangen, daß er in einer überheißen Stube vor Frost zittert, daß er mit seiner Devise "Nichts Gewisses weiß man nicht," die ausgemachtesten Dinge in Abrede stellt. Weil er alle Dinge für möglich hält, so streitet er allen ihre natürlichen Eigenschaften ab. Er würde es auffallend finden, wenn Jemand daran zweifelte, daß in Zukunft die

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[95/0123] seinen Söhnen, ob auch die Sonne den trüben Glanz des Mondes annehmen möge, und die Erde wie das Laub des Waldes zittre: eine Wahrheit wird nicht untergehen, die, daß zweimal zwei gleich vier ist! Der gute Greis! Er hat Recht; aber wenn er in unsern Tagen lebte, wer weiß, ob er seines Glaubens noch so felsengewiß wäre. Er kennt Sir Thomas nicht, einen Gentleman, den ich nur mit seinem Taufnamen nenne, weil er selbst daran zweifelt, ob sein Vatername der rechte sey. Dieser Gentleman hält Nichts für gewiß, aber Alles für wahrscheinlich. Er ist auf diese wunderliche Vorstellung erst seitdem gekommen, daß er sich mit der Physik zu beschäftigen anfing. Die ewige Metamorphose des chemischen Prozesses verwirrte seine Vorstellungen; besonders erhielt seine gesunde Vernunft in dem Augenblicke einen empfindlichen Stoß, wo er hörte, daß der menschliche Körper in jedem Momente ebenso sehr nicht da ist, als er da ist, daß er fortwährend sich verzehre und sich wieder ersetze, daß er Conglomerat von zahllosen kleinen Atomenkügelchen wäre, die nur den Schein des Zusammenhanges hätten. Seither sind alle seine Begriffe in eine solche Unbestimmtheit übergegangen, daß er in einer überheißen Stube vor Frost zittert, daß er mit seiner Devise "Nichts Gewisses weiß man nicht," die ausgemachtesten Dinge in Abrede stellt. Weil er alle Dinge für möglich hält, so streitet er allen ihre natürlichen Eigenschaften ab. Er würde es auffallend finden, wenn Jemand daran zweifelte, daß in Zukunft die

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Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/123>, abgerufen am 03.05.2024.