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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. Dieß ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Jnstitutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie nicht mit Entschuldigung für unsre Leidenschaften eintreten, weil sie keinen liebenden und schützenden Mantel über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten.

Der Moral unsrer Zeit tiefer auf den Grund zu gehen, spar' ich auf einen der folgenden Abschnitte auf. Hier ist mein Zweck erfüllt, wenn ich in den verschiedenen Manifestationen des Geistes und Herzens den Unterschied von antik und modern nachweise. Jch sagte so eben: die Moral unsrer Zeit, und will nicht behaupten, daß das Moderne auch vorzugsweise das Neuzeitige oder das Zeitgemäße das Moderne sey. Gegen unsre Zeit selbst genommen, ist das Moderne in dem gebräuchlichen Sinne weit mehr die Grazie, das ästhetische Gesetz der neuern Bestrebungen. Die Polemik unsrer Zeit, selbst die im Sinne des aufgeklärten Jahrhunderts, kann doch oft eine Physiognomie tragen, welche durchaus nicht modern zu nennen ist. Es gibt z. B. unter den politischen Parteien in Frankreich eine Fraktion, die dem ganzen chevaleresken Feudalismus des Mittelalters zustrebt und doch in Manieren und Haltung den feinsten

daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. Dieß ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Jnstitutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie nicht mit Entschuldigung für unsre Leidenschaften eintreten, weil sie keinen liebenden und schützenden Mantel über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten.

Der Moral unsrer Zeit tiefer auf den Grund zu gehen, spar’ ich auf einen der folgenden Abschnitte auf. Hier ist mein Zweck erfüllt, wenn ich in den verschiedenen Manifestationen des Geistes und Herzens den Unterschied von antik und modern nachweise. Jch sagte so eben: die Moral unsrer Zeit, und will nicht behaupten, daß das Moderne auch vorzugsweise das Neuzeitige oder das Zeitgemäße das Moderne sey. Gegen unsre Zeit selbst genommen, ist das Moderne in dem gebräuchlichen Sinne weit mehr die Grazie, das ästhetische Gesetz der neuern Bestrebungen. Die Polemik unsrer Zeit, selbst die im Sinne des aufgeklärten Jahrhunderts, kann doch oft eine Physiognomie tragen, welche durchaus nicht modern zu nennen ist. Es gibt z. B. unter den politischen Parteien in Frankreich eine Fraktion, die dem ganzen chevaleresken Feudalismus des Mittelalters zustrebt und doch in Manieren und Haltung den feinsten

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[163/0191] daß wir immer mehr für uns einstehen müssen und nur in uns selbst einen Anhaltspunkt finden dürfen. Dieß ist freilich eine große Umkehr der Zeiten und Verhältnisse! Warum sind die Jnstitutionen, die die alten Tage uns überlieferten, so schwankend und hinfällig? Aus keinem andern Grunde, als weil sie nichts mehr für uns thun, weil sie nicht mit Entschuldigung für unsre Leidenschaften eintreten, weil sie keinen liebenden und schützenden Mantel über unsre Blößen ausbreiten, sondern Alles uns selbst überlassen, die wir denn freilich so anfangen müssen, sie für gleichgültig und nutzlos zu halten. Der Moral unsrer Zeit tiefer auf den Grund zu gehen, spar’ ich auf einen der folgenden Abschnitte auf. Hier ist mein Zweck erfüllt, wenn ich in den verschiedenen Manifestationen des Geistes und Herzens den Unterschied von antik und modern nachweise. Jch sagte so eben: die Moral unsrer Zeit, und will nicht behaupten, daß das Moderne auch vorzugsweise das Neuzeitige oder das Zeitgemäße das Moderne sey. Gegen unsre Zeit selbst genommen, ist das Moderne in dem gebräuchlichen Sinne weit mehr die Grazie, das ästhetische Gesetz der neuern Bestrebungen. Die Polemik unsrer Zeit, selbst die im Sinne des aufgeklärten Jahrhunderts, kann doch oft eine Physiognomie tragen, welche durchaus nicht modern zu nennen ist. Es gibt z. B. unter den politischen Parteien in Frankreich eine Fraktion, die dem ganzen chevaleresken Feudalismus des Mittelalters zustrebt und doch in Manieren und Haltung den feinsten

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/191>, abgerufen am 29.04.2024.