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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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darnach umgemodelt worden! Die Gesetze des Anstandes, so wie sie früher gegeben wurden, werden jezt als altfränkische Pedantismen verlacht; die Bewegung ist in dem Maße freier geworden, wie es das Urtheil wurde. Der Kreis von Bezeichnungen, welcher für diesen oder jenen Begriff in frühern Zeiten durch die Schranken des Zuläßigen und Geduldeten nur sehr eng gezogen war, hat sich erweitert. So weit jeder die Kraft hat, seine Meinung durchzuführen, kann er sie selbst in den Berührungen der Gesellschaft aussprechen. So wie die Erziehung eine Ausdehnung genommen hat, deren Grenze bald nur noch das Unmögliche seyn wird, so ist es sogar den Frauen gestattet, über Fragen, denen gar kein Ziel gesteckt ist, ihre Meinung abzugeben. Bedingungen sind dabei freilich vorhanden, allein sie kommen fast alle nur auf Beobachtung gewisser Formen zurück. So scheint es fast, als möchte der feste Charakter unserer gegenwärtigen Sitten seyn, daß wir die Erlaubniß haben, Alles durch Rede und Schrift in Erörterung zu ziehen, wenn wir uns dabei nur vorsehen, die Ergebnisse unserer Grübeleien nicht sogleich auf die positiven Zustände zu übertragen.

Um uns noch mit größerer Klarheit die ganze Fernsicht unsres Gegenstandes zu eröffnen, wollen wir zunächst einige Gegensätze aus alten und ältesten Zeiten gegen die unsrige hervorheben. Wir sind natürlich mit unsren Gewohnheiten so vertraut, daß wir die relativen Eigenheiten derselben uns gar nicht mehr

darnach umgemodelt worden! Die Gesetze des Anstandes, so wie sie früher gegeben wurden, werden jezt als altfränkische Pedantismen verlacht; die Bewegung ist in dem Maße freier geworden, wie es das Urtheil wurde. Der Kreis von Bezeichnungen, welcher für diesen oder jenen Begriff in frühern Zeiten durch die Schranken des Zuläßigen und Geduldeten nur sehr eng gezogen war, hat sich erweitert. So weit jeder die Kraft hat, seine Meinung durchzuführen, kann er sie selbst in den Berührungen der Gesellschaft aussprechen. So wie die Erziehung eine Ausdehnung genommen hat, deren Grenze bald nur noch das Unmögliche seyn wird, so ist es sogar den Frauen gestattet, über Fragen, denen gar kein Ziel gesteckt ist, ihre Meinung abzugeben. Bedingungen sind dabei freilich vorhanden, allein sie kommen fast alle nur auf Beobachtung gewisser Formen zurück. So scheint es fast, als möchte der feste Charakter unserer gegenwärtigen Sitten seyn, daß wir die Erlaubniß haben, Alles durch Rede und Schrift in Erörterung zu ziehen, wenn wir uns dabei nur vorsehen, die Ergebnisse unserer Grübeleien nicht sogleich auf die positiven Zustände zu übertragen.

Um uns noch mit größerer Klarheit die ganze Fernsicht unsres Gegenstandes zu eröffnen, wollen wir zunächst einige Gegensätze aus alten und ältesten Zeiten gegen die unsrige hervorheben. Wir sind natürlich mit unsren Gewohnheiten so vertraut, daß wir die relativen Eigenheiten derselben uns gar nicht mehr

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[7/0009] darnach umgemodelt worden! Die Gesetze des Anstandes, so wie sie früher gegeben wurden, werden jezt als altfränkische Pedantismen verlacht; die Bewegung ist in dem Maße freier geworden, wie es das Urtheil wurde. Der Kreis von Bezeichnungen, welcher für diesen oder jenen Begriff in frühern Zeiten durch die Schranken des Zuläßigen und Geduldeten nur sehr eng gezogen war, hat sich erweitert. So weit jeder die Kraft hat, seine Meinung durchzuführen, kann er sie selbst in den Berührungen der Gesellschaft aussprechen. So wie die Erziehung eine Ausdehnung genommen hat, deren Grenze bald nur noch das Unmögliche seyn wird, so ist es sogar den Frauen gestattet, über Fragen, denen gar kein Ziel gesteckt ist, ihre Meinung abzugeben. Bedingungen sind dabei freilich vorhanden, allein sie kommen fast alle nur auf Beobachtung gewisser Formen zurück. So scheint es fast, als möchte der feste Charakter unserer gegenwärtigen Sitten seyn, daß wir die Erlaubniß haben, Alles durch Rede und Schrift in Erörterung zu ziehen, wenn wir uns dabei nur vorsehen, die Ergebnisse unserer Grübeleien nicht sogleich auf die positiven Zustände zu übertragen. Um uns noch mit größerer Klarheit die ganze Fernsicht unsres Gegenstandes zu eröffnen, wollen wir zunächst einige Gegensätze aus alten und ältesten Zeiten gegen die unsrige hervorheben. Wir sind natürlich mit unsren Gewohnheiten so vertraut, daß wir die relativen Eigenheiten derselben uns gar nicht mehr

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/9>, abgerufen am 29.04.2024.