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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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kümmerte mich wenig um die aufgesperrten Mäuler,
versteinerten Nasen und Glotzaugen, womit die Leute
auf der Straße, besonders die alten Weiber, die¬
sem qualifizirten Diebstahle zusahen. Als ich eine
Stunde später an demselben Hause vorbey ging,
stand die Holde am Fenster, und wie sie die Glo¬
ckenblümchen auf meiner Mütze gewahrte, wurde sie
blutroth und stürzte zurück. Ich hatte jetzt das
schöne Antlitz noch genauer gesehen; es war eine
süße, durchsichtige Verkörperung von Sommer-Abend¬
hauch, Mondschein, Nachtigallenlaut und Rosen¬
duft. -- Später, als es ganz dunkel geworden,
trat sie vor die Thüre. Ich kam -- ich näherte
mich -- sie zieht sich langsam zurück in den dunk¬
len Hausflur -- ich fasse sie bey der Hand und
sage: ich bin ein Liebhaber von schönen Blumen
und Küssen, und was man mir nicht freiwillig giebt,
das stehle ich -- und ich küßte sie rasch -- und wie
sie entfliehen will, flüstere ich beschwichtigend: mor¬
gen reis' ich fort und komme wohl nie wieder --
und ich fühle den geheimen Wiederdruck der lieb¬

kuͤmmerte mich wenig um die aufgeſperrten Maͤuler,
verſteinerten Naſen und Glotzaugen, womit die Leute
auf der Straße, beſonders die alten Weiber, die¬
ſem qualifizirten Diebſtahle zuſahen. Als ich eine
Stunde ſpaͤter an demſelben Hauſe vorbey ging,
ſtand die Holde am Fenſter, und wie ſie die Glo¬
ckenbluͤmchen auf meiner Muͤtze gewahrte, wurde ſie
blutroth und ſtuͤrzte zuruͤck. Ich hatte jetzt das
ſchoͤne Antlitz noch genauer geſehen; es war eine
ſuͤße, durchſichtige Verkoͤrperung von Sommer-Abend¬
hauch, Mondſchein, Nachtigallenlaut und Roſen¬
duft. — Spaͤter, als es ganz dunkel geworden,
trat ſie vor die Thuͤre. Ich kam — ich naͤherte
mich — ſie zieht ſich langſam zuruͤck in den dunk¬
len Hausflur — ich faſſe ſie bey der Hand und
ſage: ich bin ein Liebhaber von ſchoͤnen Blumen
und Kuͤſſen, und was man mir nicht freiwillig giebt,
das ſtehle ich — und ich kuͤßte ſie raſch — und wie
ſie entfliehen will, fluͤſtere ich beſchwichtigend: mor¬
gen reiſ' ich fort und komme wohl nie wieder —
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[166/0178] kuͤmmerte mich wenig um die aufgeſperrten Maͤuler, verſteinerten Naſen und Glotzaugen, womit die Leute auf der Straße, beſonders die alten Weiber, die¬ ſem qualifizirten Diebſtahle zuſahen. Als ich eine Stunde ſpaͤter an demſelben Hauſe vorbey ging, ſtand die Holde am Fenſter, und wie ſie die Glo¬ ckenbluͤmchen auf meiner Muͤtze gewahrte, wurde ſie blutroth und ſtuͤrzte zuruͤck. Ich hatte jetzt das ſchoͤne Antlitz noch genauer geſehen; es war eine ſuͤße, durchſichtige Verkoͤrperung von Sommer-Abend¬ hauch, Mondſchein, Nachtigallenlaut und Roſen¬ duft. — Spaͤter, als es ganz dunkel geworden, trat ſie vor die Thuͤre. Ich kam — ich naͤherte mich — ſie zieht ſich langſam zuruͤck in den dunk¬ len Hausflur — ich faſſe ſie bey der Hand und ſage: ich bin ein Liebhaber von ſchoͤnen Blumen und Kuͤſſen, und was man mir nicht freiwillig giebt, das ſtehle ich — und ich kuͤßte ſie raſch — und wie ſie entfliehen will, fluͤſtere ich beſchwichtigend: mor¬ gen reiſ' ich fort und komme wohl nie wieder — und ich fuͤhle den geheimen Wiederdruck der lieb¬

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/178>, abgerufen am 03.05.2024.