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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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lichen Lippen und der kleinen Hände -- und lachend
eile ich von hinnen. Ja, ich muß lachen, wenn
ich bedenke, daß ich unbewußt jene Zauberformel
ausgesprochen, wodurch unsere Roth- und Blau¬
röcke, öfter als durch ihre schnurbärtige Liebens¬
würdigkeit, die Herzen der Frauen bezwingen: "Ich
reise morgen fort, und komme wohl nie wieder!"

Mein Logis gewährte eine herrliche Aussicht nach
dem Rammesberg. Es war ein schöner Abend.
Die Nacht jagte auf ihrem schwarzen Rosse, und
die langen Mähnen flatterten im Winde. Ich stand
am Fenster und betrachtete den Mond. Giebt es
wirklich einen Mann im Monde? Die Slaven
sagen, er heiße Clotar, und das Wachsen des Mon¬
des bewirke er durch Wasser-Aufgießen. Als ich
noch klein war, hatte ich gehört: Der Mond sey
eine Frucht, die, wenn sie reif geworden, vom lie¬
ben Gott abgepflückt, und, zu den übrigen Voll¬
monden, in den großen Schrank gelegt werde, der
am Ende der Welt steht, wo sie mit Brettern zu¬
genagelt ist. Als ich größer wurde, bemerkte ich,

lichen Lippen und der kleinen Haͤnde — und lachend
eile ich von hinnen. Ja, ich muß lachen, wenn
ich bedenke, daß ich unbewußt jene Zauberformel
ausgeſprochen, wodurch unſere Roth- und Blau¬
roͤcke, oͤfter als durch ihre ſchnurbaͤrtige Liebens¬
wuͤrdigkeit, die Herzen der Frauen bezwingen: „Ich
reiſe morgen fort, und komme wohl nie wieder!“

Mein Logis gewaͤhrte eine herrliche Ausſicht nach
dem Rammesberg. Es war ein ſchoͤner Abend.
Die Nacht jagte auf ihrem ſchwarzen Roſſe, und
die langen Maͤhnen flatterten im Winde. Ich ſtand
am Fenſter und betrachtete den Mond. Giebt es
wirklich einen Mann im Monde? Die Slaven
ſagen, er heiße Clotar, und das Wachſen des Mon¬
des bewirke er durch Waſſer-Aufgießen. Als ich
noch klein war, hatte ich gehoͤrt: Der Mond ſey
eine Frucht, die, wenn ſie reif geworden, vom lie¬
ben Gott abgepfluͤckt, und, zu den uͤbrigen Voll¬
monden, in den großen Schrank gelegt werde, der
am Ende der Welt ſteht, wo ſie mit Brettern zu¬
genagelt iſt. Als ich groͤßer wurde, bemerkte ich,

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[167/0179] lichen Lippen und der kleinen Haͤnde — und lachend eile ich von hinnen. Ja, ich muß lachen, wenn ich bedenke, daß ich unbewußt jene Zauberformel ausgeſprochen, wodurch unſere Roth- und Blau¬ roͤcke, oͤfter als durch ihre ſchnurbaͤrtige Liebens¬ wuͤrdigkeit, die Herzen der Frauen bezwingen: „Ich reiſe morgen fort, und komme wohl nie wieder!“ Mein Logis gewaͤhrte eine herrliche Ausſicht nach dem Rammesberg. Es war ein ſchoͤner Abend. Die Nacht jagte auf ihrem ſchwarzen Roſſe, und die langen Maͤhnen flatterten im Winde. Ich ſtand am Fenſter und betrachtete den Mond. Giebt es wirklich einen Mann im Monde? Die Slaven ſagen, er heiße Clotar, und das Wachſen des Mon¬ des bewirke er durch Waſſer-Aufgießen. Als ich noch klein war, hatte ich gehoͤrt: Der Mond ſey eine Frucht, die, wenn ſie reif geworden, vom lie¬ ben Gott abgepfluͤckt, und, zu den uͤbrigen Voll¬ monden, in den großen Schrank gelegt werde, der am Ende der Welt ſteht, wo ſie mit Brettern zu¬ genagelt iſt. Als ich groͤßer wurde, bemerkte ich,

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/179>, abgerufen am 04.05.2024.