Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

gleich, dass die Wahrnehmung unsrer eignen Zustände
und Vorstellungen gar nicht auf einer besondern Prädis-
position beruhe; dass sie vielmehr auf eben so natürli-
chem Wege, wie alles Andere, in der Seele erst wer-
den
muss, und dass sie alsdann gerade so weit und nicht
weiter reicht, als wie weit sie geworden ist. Ein ge-
wisses Quantum von Selbst-Beobachtung erzeugt sich
unter gewissen Umständen aus gewissen Ursachen; als-
dann geschicht die Selbst-Beobachtung wirklich, und in
andern Fällen unterbleibt sie, weil keine Möglichkeit
ihres Geschehens vorhanden ist.

Wenn nun die Selbstbeobachtung wirklich vor sich
geht, wer ist alsdann der Beobachtende, und wer wird
beobachtet? Hoffentlich wird man nicht antworten: Ich
selbst bin das eine und das andere
. Denn dieser
Ich, der da Object und Subject zugleich seyn will, ist
als ein völliges Unding nun einmal bekannt. In der Seele
sind nur Vorstellungen; aus diesen muss alles zusammen-
gesetzt werden, was im Bewusstseyn vorkommen soll.

Also: Eine Vorstellung, oder Vorstellungs-
masse, wird beobachtet; eine andere Vorstel-
lung,
oder Vorstellungsmasse, ist die beob-
achtende
.

So paradox dieser Satz allen denen klingen muss,
die in unerkannten Widersprüchen nun einmal leben
und weben: so leicht fügt er dem Ganzen unserer Grund-
sätze sich an; und so passende Aufschlüsse giebt er über
die Thatsachen, die den innern Sinn charakterisiren.

Wir haben bisher vielfältig, und noch ganz zuletzt
in der Betrachtung über das Entstehen der Urtheile, von
der Wirkung gesprochen, welche eine neu eintretende
Wahrnehmung auf die schon vorhandenen älteren Vor-
stellungen haben muss, die sie erweckt, mit denen sie
verschmilzt, die sie aber auch hemmt, und von denen
sie gehemmt wird, insofern ein Gegensatz zwischen der
neuen Vorstellung und der älteren vorhandenen oder er-
weckten sich bildet.

O 2

gleich, daſs die Wahrnehmung unsrer eignen Zustände
und Vorstellungen gar nicht auf einer besondern Prädis-
position beruhe; daſs sie vielmehr auf eben so natürli-
chem Wege, wie alles Andere, in der Seele erst wer-
den
muſs, und daſs sie alsdann gerade so weit und nicht
weiter reicht, als wie weit sie geworden ist. Ein ge-
wisses Quantum von Selbst-Beobachtung erzeugt sich
unter gewissen Umständen aus gewissen Ursachen; als-
dann geschicht die Selbst-Beobachtung wirklich, und in
andern Fällen unterbleibt sie, weil keine Möglichkeit
ihres Geschehens vorhanden ist.

Wenn nun die Selbstbeobachtung wirklich vor sich
geht, wer ist alsdann der Beobachtende, und wer wird
beobachtet? Hoffentlich wird man nicht antworten: Ich
selbst bin das eine und das andere
. Denn dieser
Ich, der da Object und Subject zugleich seyn will, ist
als ein völliges Unding nun einmal bekannt. In der Seele
sind nur Vorstellungen; aus diesen muſs alles zusammen-
gesetzt werden, was im Bewuſstseyn vorkommen soll.

Also: Eine Vorstellung, oder Vorstellungs-
masse, wird beobachtet; eine andere Vorstel-
lung,
oder Vorstellungsmasse, ist die beob-
achtende
.

So paradox dieser Satz allen denen klingen muſs,
die in unerkannten Widersprüchen nun einmal leben
und weben: so leicht fügt er dem Ganzen unserer Grund-
sätze sich an; und so passende Aufschlüsse giebt er über
die Thatsachen, die den innern Sinn charakterisiren.

Wir haben bisher vielfältig, und noch ganz zuletzt
in der Betrachtung über das Entstehen der Urtheile, von
der Wirkung gesprochen, welche eine neu eintretende
Wahrnehmung auf die schon vorhandenen älteren Vor-
stellungen haben muſs, die sie erweckt, mit denen sie
verschmilzt, die sie aber auch hemmt, und von denen
sie gehemmt wird, insofern ein Gegensatz zwischen der
neuen Vorstellung und der älteren vorhandenen oder er-
weckten sich bildet.

O 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0246" n="211"/>
gleich, da&#x017F;s die Wahrnehmung unsrer eignen Zustände<lb/>
und Vorstellungen gar nicht auf einer besondern Prädis-<lb/>
position beruhe; da&#x017F;s sie vielmehr auf eben so natürli-<lb/>
chem Wege, wie alles Andere, in der Seele erst <hi rendition="#g">wer-<lb/>
den</hi> mu&#x017F;s, und da&#x017F;s sie alsdann gerade so weit und nicht<lb/>
weiter reicht, als wie weit sie <hi rendition="#g">geworden</hi> ist. Ein ge-<lb/>
wisses Quantum von Selbst-Beobachtung erzeugt sich<lb/>
unter gewissen Umständen aus gewissen Ursachen; als-<lb/>
dann geschicht die Selbst-Beobachtung <hi rendition="#g">wirklich</hi>, und in<lb/>
andern Fällen unterbleibt sie, weil <hi rendition="#g">keine Möglichkeit</hi><lb/>
ihres Geschehens vorhanden ist.</p><lb/>
              <p>Wenn nun die Selbstbeobachtung wirklich vor sich<lb/>
geht, <hi rendition="#g">wer</hi> ist alsdann der Beobachtende, und <hi rendition="#g">wer</hi> wird<lb/>
beobachtet? Hoffentlich wird man nicht antworten: <hi rendition="#g">Ich<lb/>
selbst bin das eine und das andere</hi>. Denn dieser<lb/><hi rendition="#g">Ich</hi>, der da Object und Subject zugleich seyn will, ist<lb/>
als ein völliges Unding nun einmal bekannt. In der Seele<lb/>
sind nur Vorstellungen; aus diesen mu&#x017F;s alles zusammen-<lb/>
gesetzt werden, was im Bewu&#x017F;stseyn vorkommen soll.</p><lb/>
              <p>Also: <hi rendition="#g"><hi rendition="#i">Eine</hi> Vorstellung, oder Vorstellungs-<lb/>
masse, wird beobachtet; eine <hi rendition="#i">andere Vorstel-<lb/>
lung,</hi> oder Vorstellungsmasse, ist die beob-<lb/>
achtende</hi>.</p><lb/>
              <p>So paradox dieser Satz allen denen klingen mu&#x017F;s,<lb/>
die in unerkannten Widersprüchen nun einmal leben<lb/>
und weben: so leicht fügt er dem Ganzen unserer Grund-<lb/>
sätze sich an; und so passende Aufschlüsse giebt er über<lb/>
die Thatsachen, die den innern Sinn charakterisiren.</p><lb/>
              <p>Wir haben bisher vielfältig, und noch ganz zuletzt<lb/>
in der Betrachtung über das Entstehen der Urtheile, von<lb/>
der Wirkung gesprochen, welche eine neu eintretende<lb/>
Wahrnehmung auf die schon vorhandenen älteren Vor-<lb/>
stellungen haben mu&#x017F;s, die sie erweckt, mit denen sie<lb/>
verschmilzt, die sie aber auch hemmt, und von denen<lb/>
sie gehemmt wird, insofern ein Gegensatz zwischen der<lb/>
neuen Vorstellung und der älteren vorhandenen oder er-<lb/>
weckten sich bildet.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">O 2</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0246] gleich, daſs die Wahrnehmung unsrer eignen Zustände und Vorstellungen gar nicht auf einer besondern Prädis- position beruhe; daſs sie vielmehr auf eben so natürli- chem Wege, wie alles Andere, in der Seele erst wer- den muſs, und daſs sie alsdann gerade so weit und nicht weiter reicht, als wie weit sie geworden ist. Ein ge- wisses Quantum von Selbst-Beobachtung erzeugt sich unter gewissen Umständen aus gewissen Ursachen; als- dann geschicht die Selbst-Beobachtung wirklich, und in andern Fällen unterbleibt sie, weil keine Möglichkeit ihres Geschehens vorhanden ist. Wenn nun die Selbstbeobachtung wirklich vor sich geht, wer ist alsdann der Beobachtende, und wer wird beobachtet? Hoffentlich wird man nicht antworten: Ich selbst bin das eine und das andere. Denn dieser Ich, der da Object und Subject zugleich seyn will, ist als ein völliges Unding nun einmal bekannt. In der Seele sind nur Vorstellungen; aus diesen muſs alles zusammen- gesetzt werden, was im Bewuſstseyn vorkommen soll. Also: Eine Vorstellung, oder Vorstellungs- masse, wird beobachtet; eine andere Vorstel- lung, oder Vorstellungsmasse, ist die beob- achtende. So paradox dieser Satz allen denen klingen muſs, die in unerkannten Widersprüchen nun einmal leben und weben: so leicht fügt er dem Ganzen unserer Grund- sätze sich an; und so passende Aufschlüsse giebt er über die Thatsachen, die den innern Sinn charakterisiren. Wir haben bisher vielfältig, und noch ganz zuletzt in der Betrachtung über das Entstehen der Urtheile, von der Wirkung gesprochen, welche eine neu eintretende Wahrnehmung auf die schon vorhandenen älteren Vor- stellungen haben muſs, die sie erweckt, mit denen sie verschmilzt, die sie aber auch hemmt, und von denen sie gehemmt wird, insofern ein Gegensatz zwischen der neuen Vorstellung und der älteren vorhandenen oder er- weckten sich bildet. O 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/246
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/246>, abgerufen am 05.05.2024.