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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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181. Was geschieht mit den Vorstellungen, indem sie
sich zu Urtheilen verknüpfen; und warum begeben sie sich so
häufig in diese Form?

Bloße Complicationen oder Verschmelzun-
gen können die Urtheile nicht seyn
; dabey würden
sich Subject und Prädicat nicht unterscheiden, vielmehr so
zusammenfließen, daß sie als ein ungetrenntes Eins, ohne
Spur der Verknüpfung vorgestellt würden. Das Subject,
als solches, muß zuvor zwischen mehrern Bestimmungen
schweben, damit es als das Bestimmbare dem Prädicate
gegenüber stehe. Kann dieser Foderung auf mehr als eine
Weise Genüge geschehn, so giebt es einen mehrfachen Ur-
sprung der Urtheile.

182. Erstlich: jene Gesammt-Eindrücke aus ähnlichen
Wahrnehmungen schweben zwischen mehrern Bestimmungen.
Wer einen Menschen häufig sah, bald stehend, bald sitzend,
bald arbeitend, bald ruhend, der hat eine solche schwebende Ge-
sammtvorstellung; wer ihn jetzt wieder sieht, bey dem ent-
scheidet der Anblick, wie er ihn nun finde; und so bildet sich
ein Urtheil. -- Eine Menge von Verneinungen (wie er ihn
nicht finde) sind hiebey kaum merklich. Aber sie werden es in
Fällen, wo der Erwartung widersprochen wird. Wer einen
Baum heute wiedersieht, dem in der letzten Nacht der Sturm
einen Ast abschlug, der urtheilt zuerst negativ: der Baum
hat seinen Ast nicht
; dann positiv: er ist an der oder
jener Stelle zerbrochen, zersplittert, u. dgl.

183. Zweytens: wer eben jetzt einen ihm neuen Ge-
genstand erblickt, dem regen sich eine Menge von Vorstel-
lungen, die, wegen partieller Aehnlichkeiten mit jenem, um
ein Weniges reproducirt werden. Zwischen ihnen, als den
Bestimmungen, schwebt jenes Neue, als das Bestimmbare;
und daraus entsteht die Frage: was ist das?

184. Drittens: diejenigen Gesammt-Vorstellungen, in

181. Was geschieht mit den Vorstellungen, indem sie
sich zu Urtheilen verknüpfen; und warum begeben sie sich so
häufig in diese Form?

Bloße Complicationen oder Verschmelzun-
gen können die Urtheile nicht seyn
; dabey würden
sich Subject und Prädicat nicht unterscheiden, vielmehr so
zusammenfließen, daß sie als ein ungetrenntes Eins, ohne
Spur der Verknüpfung vorgestellt würden. Das Subject,
als solches, muß zuvor zwischen mehrern Bestimmungen
schweben, damit es als das Bestimmbare dem Prädicate
gegenüber stehe. Kann dieser Foderung auf mehr als eine
Weise Genüge geschehn, so giebt es einen mehrfachen Ur-
sprung der Urtheile.

182. Erstlich: jene Gesammt-Eindrücke aus ähnlichen
Wahrnehmungen schweben zwischen mehrern Bestimmungen.
Wer einen Menschen häufig sah, bald stehend, bald sitzend,
bald arbeitend, bald ruhend, der hat eine solche schwebende Ge-
sammtvorstellung; wer ihn jetzt wieder sieht, bey dem ent-
scheidet der Anblick, wie er ihn nun finde; und so bildet sich
ein Urtheil. — Eine Menge von Verneinungen (wie er ihn
nicht finde) sind hiebey kaum merklich. Aber sie werden es in
Fällen, wo der Erwartung widersprochen wird. Wer einen
Baum heute wiedersieht, dem in der letzten Nacht der Sturm
einen Ast abschlug, der urtheilt zuerst negativ: der Baum
hat seinen Ast nicht
; dann positiv: er ist an der oder
jener Stelle zerbrochen, zersplittert, u. dgl.

183. Zweytens: wer eben jetzt einen ihm neuen Ge-
genstand erblickt, dem regen sich eine Menge von Vorstel-
lungen, die, wegen partieller Aehnlichkeiten mit jenem, um
ein Weniges reproducirt werden. Zwischen ihnen, als den
Bestimmungen, schwebt jenes Neue, als das Bestimmbare;
und daraus entsteht die Frage: was ist das?

184. Drittens: diejenigen Gesammt-Vorstellungen, in

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[146/0154] 181. Was geschieht mit den Vorstellungen, indem sie sich zu Urtheilen verknüpfen; und warum begeben sie sich so häufig in diese Form? Bloße Complicationen oder Verschmelzun- gen können die Urtheile nicht seyn; dabey würden sich Subject und Prädicat nicht unterscheiden, vielmehr so zusammenfließen, daß sie als ein ungetrenntes Eins, ohne Spur der Verknüpfung vorgestellt würden. Das Subject, als solches, muß zuvor zwischen mehrern Bestimmungen schweben, damit es als das Bestimmbare dem Prädicate gegenüber stehe. Kann dieser Foderung auf mehr als eine Weise Genüge geschehn, so giebt es einen mehrfachen Ur- sprung der Urtheile. 182. Erstlich: jene Gesammt-Eindrücke aus ähnlichen Wahrnehmungen schweben zwischen mehrern Bestimmungen. Wer einen Menschen häufig sah, bald stehend, bald sitzend, bald arbeitend, bald ruhend, der hat eine solche schwebende Ge- sammtvorstellung; wer ihn jetzt wieder sieht, bey dem ent- scheidet der Anblick, wie er ihn nun finde; und so bildet sich ein Urtheil. — Eine Menge von Verneinungen (wie er ihn nicht finde) sind hiebey kaum merklich. Aber sie werden es in Fällen, wo der Erwartung widersprochen wird. Wer einen Baum heute wiedersieht, dem in der letzten Nacht der Sturm einen Ast abschlug, der urtheilt zuerst negativ: der Baum hat seinen Ast nicht; dann positiv: er ist an der oder jener Stelle zerbrochen, zersplittert, u. dgl. 183. Zweytens: wer eben jetzt einen ihm neuen Ge- genstand erblickt, dem regen sich eine Menge von Vorstel- lungen, die, wegen partieller Aehnlichkeiten mit jenem, um ein Weniges reproducirt werden. Zwischen ihnen, als den Bestimmungen, schwebt jenes Neue, als das Bestimmbare; und daraus entsteht die Frage: was ist das? 184. Drittens: diejenigen Gesammt-Vorstellungen, in

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/154>, abgerufen am 12.05.2024.