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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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sehene erklären: die Einbildungskraft wird gespannt und auf
ihre Weise d. i. durch Einbildungen befriedigt. Ueberhaupt
ist das Ohr der furchtsamste, der scheueste aller Sinne; es
empfindet lebhaft aber nur dunkel: es kann nicht zusammen-
halten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn seine Gegen-
stände gehn im betäubenden Strom vorüber. Bestimmt, die
Seele zu wecken, kann es, ohne Beihülfe der andern Sinne
insonderheit des Auges, sie selten bis zur deutlichen Gnug-
thuung belehren.

3. Man siehet daher, bei welchen Völkern die Ein-
bildungskraft am stärksten gespannt seyn müsse?
bei
solchen nämlich, die die Einsamkeit lieben, die wilde Gegenden
der Natur, die Wüste, ein felsigtes Land, die Sturmreiche
Küste des Meers, den Fuß Feuerspeiender Berge oder andre
Wunder- und Bewegungvolle Erdstriche bewohnen. Von
den ältesten Zeiten an, ist die Arabische Wüste eine Mutter
hoher Einbildungen gewesen und die solchen nachhingen, wa-
ren meistentheils einsame, staunende Menschen. Jn der Ein-
samkeit empfing Mahomed seinen Koran: seine erregte Phan-
tasie verzückte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel,
Seligen und Welten: nie ist seine Seele entflammter, als
wenn sie den Blitz der einsamen Nacht, den Tag der großen
Wiedervergeltung und andre unermeßliche Gegenstände mah-

let.

ſehene erklaͤren: die Einbildungskraft wird geſpannt und auf
ihre Weiſe d. i. durch Einbildungen befriedigt. Ueberhaupt
iſt das Ohr der furchtſamſte, der ſcheueſte aller Sinne; es
empfindet lebhaft aber nur dunkel: es kann nicht zuſammen-
halten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn ſeine Gegen-
ſtaͤnde gehn im betaͤubenden Strom voruͤber. Beſtimmt, die
Seele zu wecken, kann es, ohne Beihuͤlfe der andern Sinne
inſonderheit des Auges, ſie ſelten bis zur deutlichen Gnug-
thuung belehren.

3. Man ſiehet daher, bei welchen Voͤlkern die Ein-
bildungskraft am ſtaͤrkſten geſpannt ſeyn muͤſſe?
bei
ſolchen naͤmlich, die die Einſamkeit lieben, die wilde Gegenden
der Natur, die Wuͤſte, ein felſigtes Land, die Sturmreiche
Kuͤſte des Meers, den Fuß Feuerſpeiender Berge oder andre
Wunder- und Bewegungvolle Erdſtriche bewohnen. Von
den aͤlteſten Zeiten an, iſt die Arabiſche Wuͤſte eine Mutter
hoher Einbildungen geweſen und die ſolchen nachhingen, wa-
ren meiſtentheils einſame, ſtaunende Menſchen. Jn der Ein-
ſamkeit empfing Mahomed ſeinen Koran: ſeine erregte Phan-
taſie verzuͤckte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel,
Seligen und Welten: nie iſt ſeine Seele entflammter, als
wenn ſie den Blitz der einſamen Nacht, den Tag der großen
Wiedervergeltung und andre unermeßliche Gegenſtaͤnde mah-

let.
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[151/0163] ſehene erklaͤren: die Einbildungskraft wird geſpannt und auf ihre Weiſe d. i. durch Einbildungen befriedigt. Ueberhaupt iſt das Ohr der furchtſamſte, der ſcheueſte aller Sinne; es empfindet lebhaft aber nur dunkel: es kann nicht zuſammen- halten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn ſeine Gegen- ſtaͤnde gehn im betaͤubenden Strom voruͤber. Beſtimmt, die Seele zu wecken, kann es, ohne Beihuͤlfe der andern Sinne inſonderheit des Auges, ſie ſelten bis zur deutlichen Gnug- thuung belehren. 3. Man ſiehet daher, bei welchen Voͤlkern die Ein- bildungskraft am ſtaͤrkſten geſpannt ſeyn muͤſſe? bei ſolchen naͤmlich, die die Einſamkeit lieben, die wilde Gegenden der Natur, die Wuͤſte, ein felſigtes Land, die Sturmreiche Kuͤſte des Meers, den Fuß Feuerſpeiender Berge oder andre Wunder- und Bewegungvolle Erdſtriche bewohnen. Von den aͤlteſten Zeiten an, iſt die Arabiſche Wuͤſte eine Mutter hoher Einbildungen geweſen und die ſolchen nachhingen, wa- ren meiſtentheils einſame, ſtaunende Menſchen. Jn der Ein- ſamkeit empfing Mahomed ſeinen Koran: ſeine erregte Phan- taſie verzuͤckte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel, Seligen und Welten: nie iſt ſeine Seele entflammter, als wenn ſie den Blitz der einſamen Nacht, den Tag der großen Wiedervergeltung und andre unermeßliche Gegenſtaͤnde mah- let.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/163>, abgerufen am 29.04.2024.