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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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um sie nicht verdiente. Sofern ist er also wirklich in und zu
der Gesellschaft gebildet; ohne sie konnte er weder entstehen,
noch ein Mensch werden. Wo Ungeselligkeit bei ihm anfängt,
ist, wo man seine Natur bedrängt, indem er mit andern Le-
bendigen collidiret; hier ist er aber wiederum keine Ausnahme,
sondern wirkt nach dem großen Gesetz der Selbsterhaltung in
allen Wesen. Lasset uns sehen, was die Natur für Mittel
aussann, ihn dennoch auch hier, so viel sie konnte, befriedi-
gend einzuschränken und den Krieg aller gegen alle zu hindern.

1. Da der Mensch das vielfach-künstlichste Geschöpf
ist: so findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine so
große Verschiedenheit genetischer Charaktere statt als beim
Menschen. Der hinreißende, blinde Jnstinkt fehlet seinem
feinen Gebilde: die Stralen der Gedanken und Begierden
hingegen laufen in seinem Geschlecht wie in keinem andern
aus einander. Seiner Natur nach darf also der Mensch we-
niger mit andern collidiren, da diese in einer ungeheuren
Mannichfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm
vertheilt und gleichsam vereinzelt ist. Was Einem Menschen
gleichgültig vorkommt, ziehet den andern; und so hat jedwe-
der eine Welt des Genusses um sich, eine für ihn geschaffene
Schöpfung.

2. Die-

um ſie nicht verdiente. Sofern iſt er alſo wirklich in und zu
der Geſellſchaft gebildet; ohne ſie konnte er weder entſtehen,
noch ein Menſch werden. Wo Ungeſelligkeit bei ihm anfaͤngt,
iſt, wo man ſeine Natur bedraͤngt, indem er mit andern Le-
bendigen collidiret; hier iſt er aber wiederum keine Ausnahme,
ſondern wirkt nach dem großen Geſetz der Selbſterhaltung in
allen Weſen. Laſſet uns ſehen, was die Natur fuͤr Mittel
ausſann, ihn dennoch auch hier, ſo viel ſie konnte, befriedi-
gend einzuſchraͤnken und den Krieg aller gegen alle zu hindern.

1. Da der Menſch das vielfach-kuͤnſtlichſte Geſchoͤpf
iſt: ſo findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine ſo
große Verſchiedenheit genetiſcher Charaktere ſtatt als beim
Menſchen. Der hinreißende, blinde Jnſtinkt fehlet ſeinem
feinen Gebilde: die Stralen der Gedanken und Begierden
hingegen laufen in ſeinem Geſchlecht wie in keinem andern
aus einander. Seiner Natur nach darf alſo der Menſch we-
niger mit andern collidiren, da dieſe in einer ungeheuren
Mannichfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm
vertheilt und gleichſam vereinzelt iſt. Was Einem Menſchen
gleichguͤltig vorkommt, ziehet den andern; und ſo hat jedwe-
der eine Welt des Genuſſes um ſich, eine fuͤr ihn geſchaffene
Schoͤpfung.

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[174/0186] um ſie nicht verdiente. Sofern iſt er alſo wirklich in und zu der Geſellſchaft gebildet; ohne ſie konnte er weder entſtehen, noch ein Menſch werden. Wo Ungeſelligkeit bei ihm anfaͤngt, iſt, wo man ſeine Natur bedraͤngt, indem er mit andern Le- bendigen collidiret; hier iſt er aber wiederum keine Ausnahme, ſondern wirkt nach dem großen Geſetz der Selbſterhaltung in allen Weſen. Laſſet uns ſehen, was die Natur fuͤr Mittel ausſann, ihn dennoch auch hier, ſo viel ſie konnte, befriedi- gend einzuſchraͤnken und den Krieg aller gegen alle zu hindern. 1. Da der Menſch das vielfach-kuͤnſtlichſte Geſchoͤpf iſt: ſo findet auch bei keiner Gattung der Lebendigen eine ſo große Verſchiedenheit genetiſcher Charaktere ſtatt als beim Menſchen. Der hinreißende, blinde Jnſtinkt fehlet ſeinem feinen Gebilde: die Stralen der Gedanken und Begierden hingegen laufen in ſeinem Geſchlecht wie in keinem andern aus einander. Seiner Natur nach darf alſo der Menſch we- niger mit andern collidiren, da dieſe in einer ungeheuren Mannichfaltigkeit von Anlagen, Sinnen und Trieben bei ihm vertheilt und gleichſam vereinzelt iſt. Was Einem Menſchen gleichguͤltig vorkommt, ziehet den andern; und ſo hat jedwe- der eine Welt des Genuſſes um ſich, eine fuͤr ihn geſchaffene Schoͤpfung. 2. Die-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/186>, abgerufen am 28.04.2024.