Bringet sie nicht in künstliche Raserei: so dörft ihr sie durch keine Gegenkünste binden.
3. Auch die Zeiten, wenn Menschen zusammen seyn mußten, verkürzte die Natur, wie sie sie verkürzen konnte. Der Mensch ist einer langen Erziehung bedürftig; aber als- denn ist er noch schwach: er hat die Art des Kindes, das zürnt und wieder vergißt, das oft unwillig ist, aber keinen langen Groll nähret. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in ihm auf und er verläßt das Haus des Vaters. Die Natur wirkte in diesem Triebe: sie stieß ihn aus, damit er sein eigen Nest bereite.
Und mit wem bereitet er dasselbe? Mit einem Geschöpf, das ihm so unähnlich-ähnlich, das ihm in streitbaren Leiden- schaften so ungleichartig gemacht ist, als es im Zweck der Ver- einigung beider nur irgend geschehen konnte. Des Weibes Natur ist eine andre als des Mannes: sie empfindet anders, sie wirkt anders. Elender, dessen Nebenbuhlerinn sein Weib ist oder die ihn in männlichen Tugenden gar überwindet! Nur durch nachgebende Güte soll sie ihn beherrschen; und so wird der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. -- --
Weiter will ich die Geschichte der Vereinzelung des Men- schengeschlechts nicht fortsetzen; der Grund ist gelegt, daß mit
den
Bringet ſie nicht in kuͤnſtliche Raſerei: ſo doͤrft ihr ſie durch keine Gegenkuͤnſte binden.
3. Auch die Zeiten, wenn Menſchen zuſammen ſeyn mußten, verkuͤrzte die Natur, wie ſie ſie verkuͤrzen konnte. Der Menſch iſt einer langen Erziehung beduͤrftig; aber als- denn iſt er noch ſchwach: er hat die Art des Kindes, das zuͤrnt und wieder vergißt, das oft unwillig iſt, aber keinen langen Groll naͤhret. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in ihm auf und er verlaͤßt das Haus des Vaters. Die Natur wirkte in dieſem Triebe: ſie ſtieß ihn aus, damit er ſein eigen Neſt bereite.
Und mit wem bereitet er daſſelbe? Mit einem Geſchoͤpf, das ihm ſo unaͤhnlich-aͤhnlich, das ihm in ſtreitbaren Leiden- ſchaften ſo ungleichartig gemacht iſt, als es im Zweck der Ver- einigung beider nur irgend geſchehen konnte. Des Weibes Natur iſt eine andre als des Mannes: ſie empfindet anders, ſie wirkt anders. Elender, deſſen Nebenbuhlerinn ſein Weib iſt oder die ihn in maͤnnlichen Tugenden gar uͤberwindet! Nur durch nachgebende Guͤte ſoll ſie ihn beherrſchen; und ſo wird der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. — —
Weiter will ich die Geſchichte der Vereinzelung des Men- ſchengeſchlechts nicht fortſetzen; der Grund iſt gelegt, daß mit
den
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Bringet ſie nicht in kuͤnſtliche Raſerei: ſo doͤrft ihr ſie durch
keine Gegenkuͤnſte binden.
3. Auch die Zeiten, wenn Menſchen zuſammen ſeyn
mußten, verkuͤrzte die Natur, wie ſie ſie verkuͤrzen konnte.
Der Menſch iſt einer langen Erziehung beduͤrftig; aber als-
denn iſt er noch ſchwach: er hat die Art des Kindes, das zuͤrnt
und wieder vergißt, das oft unwillig iſt, aber keinen langen
Groll naͤhret. Sobald er Mann wird, wacht ein Trieb in
ihm auf und er verlaͤßt das Haus des Vaters. Die Natur
wirkte in dieſem Triebe: ſie ſtieß ihn aus, damit er ſein eigen
Neſt bereite.
Und mit wem bereitet er daſſelbe? Mit einem Geſchoͤpf,
das ihm ſo unaͤhnlich-aͤhnlich, das ihm in ſtreitbaren Leiden-
ſchaften ſo ungleichartig gemacht iſt, als es im Zweck der Ver-
einigung beider nur irgend geſchehen konnte. Des Weibes
Natur iſt eine andre als des Mannes: ſie empfindet anders,
ſie wirkt anders. Elender, deſſen Nebenbuhlerinn ſein Weib
iſt oder die ihn in maͤnnlichen Tugenden gar uͤberwindet! Nur
durch nachgebende Guͤte ſoll ſie ihn beherrſchen; und ſo wird
der Zankapfel abermals ein Apfel der Liebe. — —
Weiter will ich die Geſchichte der Vereinzelung des Men-
ſchengeſchlechts nicht fortſetzen; der Grund iſt gelegt, daß mit
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/188>, abgerufen am 29.04.2024.
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