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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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den verschiednen Häusern und Familien auch neue Gesellschaf-
ten, Gesetze, Sitten und sogar Sprachen werden. Was zei-
gen diese verschiednen, diese unvermeidlichen Dialekte, die sich
auf unsrer Erde in unbeschreibbarer Anzahl, und oft schon in
der kleinsten Entfernung neben einander finden? Das zeigen
sie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zusammen-
drängung, sondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder an-
legte. Kein Baum soll, so viel möglich, dem andern die Luft
nehmen, damit dieser ein Zwerg bleibe oder um einen freien
Athemhauch zu genießen, sich zum elenden Krüppel beuge.
Eignen Platz soll er finden, damit er durch eignen Trieb Wur-
zelaus in die Höhe steige und eine blühende Krone treibe.

Nicht Krieg also, sondern Friede ist der Natur-Zustand
des unbedrängten menschlichen Geschlechts: denn Krieg ist
ein Stand der Noth, nicht des ursprünglichen Genußes. Jn
den Händen der Natur ist er, (die Menschenfresserei selbst ein-
gerechnet) nie Zweck sondern hie und da ein hartes, trauriges
Mittel, dem die Mutter aller Dinge selbst nicht allenthalben
entweichen konnte, das sie aber zum Ersatz dafür auf desto hö-
here, reichere, vielfachere Zwecke anwandte.

Ehe wir also zum traurigen Haß kommen dörfen, wollen
wir von der erfreuenden Liebe reden. Ueberall auf der Erde

ist
Jdeen, II. Th. Z

den verſchiednen Haͤuſern und Familien auch neue Geſellſchaf-
ten, Geſetze, Sitten und ſogar Sprachen werden. Was zei-
gen dieſe verſchiednen, dieſe unvermeidlichen Dialekte, die ſich
auf unſrer Erde in unbeſchreibbarer Anzahl, und oft ſchon in
der kleinſten Entfernung neben einander finden? Das zeigen
ſie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zuſammen-
draͤngung, ſondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder an-
legte. Kein Baum ſoll, ſo viel moͤglich, dem andern die Luft
nehmen, damit dieſer ein Zwerg bleibe oder um einen freien
Athemhauch zu genießen, ſich zum elenden Kruͤppel beuge.
Eignen Platz ſoll er finden, damit er durch eignen Trieb Wur-
zelaus in die Hoͤhe ſteige und eine bluͤhende Krone treibe.

Nicht Krieg alſo, ſondern Friede iſt der Natur-Zuſtand
des unbedraͤngten menſchlichen Geſchlechts: denn Krieg iſt
ein Stand der Noth, nicht des urſpruͤnglichen Genußes. Jn
den Haͤnden der Natur iſt er, (die Menſchenfreſſerei ſelbſt ein-
gerechnet) nie Zweck ſondern hie und da ein hartes, trauriges
Mittel, dem die Mutter aller Dinge ſelbſt nicht allenthalben
entweichen konnte, das ſie aber zum Erſatz dafuͤr auf deſto hoͤ-
here, reichere, vielfachere Zwecke anwandte.

Ehe wir alſo zum traurigen Haß kommen doͤrfen, wollen
wir von der erfreuenden Liebe reden. Ueberall auf der Erde

iſt
Jdeen, II. Th. Z
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[177/0189] den verſchiednen Haͤuſern und Familien auch neue Geſellſchaf- ten, Geſetze, Sitten und ſogar Sprachen werden. Was zei- gen dieſe verſchiednen, dieſe unvermeidlichen Dialekte, die ſich auf unſrer Erde in unbeſchreibbarer Anzahl, und oft ſchon in der kleinſten Entfernung neben einander finden? Das zeigen ſie, daß es die weitverbreitende Mutter nicht auf Zuſammen- draͤngung, ſondern auf freie Verpflanzung ihrer Kinder an- legte. Kein Baum ſoll, ſo viel moͤglich, dem andern die Luft nehmen, damit dieſer ein Zwerg bleibe oder um einen freien Athemhauch zu genießen, ſich zum elenden Kruͤppel beuge. Eignen Platz ſoll er finden, damit er durch eignen Trieb Wur- zelaus in die Hoͤhe ſteige und eine bluͤhende Krone treibe. Nicht Krieg alſo, ſondern Friede iſt der Natur-Zuſtand des unbedraͤngten menſchlichen Geſchlechts: denn Krieg iſt ein Stand der Noth, nicht des urſpruͤnglichen Genußes. Jn den Haͤnden der Natur iſt er, (die Menſchenfreſſerei ſelbſt ein- gerechnet) nie Zweck ſondern hie und da ein hartes, trauriges Mittel, dem die Mutter aller Dinge ſelbſt nicht allenthalben entweichen konnte, das ſie aber zum Erſatz dafuͤr auf deſto hoͤ- here, reichere, vielfachere Zwecke anwandte. Ehe wir alſo zum traurigen Haß kommen doͤrfen, wollen wir von der erfreuenden Liebe reden. Ueberall auf der Erde iſt Jdeen, II. Th. Z

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/189>, abgerufen am 29.04.2024.