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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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selbst als eine geerbte Sitte auflegten und bei den armseligsten
Völkern finden sich hierinn oft die größesten Muster. Es ist
nicht Verstellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare
Tochter zur beschwerlichen Ehe gezwungen werden muß: sie
entläuft der Hütte, sie fliehet in die Wüste: mit Thränen
nimmt sie ihren Brautkranz, denn es ist die letzte Blüthe ihrer
vertändelten, freieren Jugend. Die meisten Brautlieder sol-
cher Nationen sind Aufmunterungs- Trost- und halbe Trauer-
liedera), über die wir spotten, weil wir ihre Unschuld und
Wahrheit nicht mehr fühlen. Zärtlich nimmt sie Abschied
von allem, was ihrer Jugend so lieb war: als eine Verstorbene
verläßt sie das Haus ihrer Eltern, verlieret ihren vorigen Na-
men und wird das Eigenthum eines Fremden, der vielleicht
ihr Tyrann ist. Das unschätzbarste, was ein Mensch hat,
muß sie ihm aufopfern, Besitz ihrer Person, Freiheit, Willen,
ja vielleicht Gesundheit und Leben; und das Alles um Reize,
die die keusche Jungfrau noch nicht kennet und die ihr viel-
leicht bald in einem Meer von Ungemächlichkeit verschwinden.
Glücklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnenn-
bar-zarten und starken Gefühl für den persönlichen Werth des

Mannes
a) S. einige derselben in den Volksliedern Th. 1. S. 33. Th. 2.
S. 96-98. S. 104.
Jdeen, II. Th. A a

ſelbſt als eine geerbte Sitte auflegten und bei den armſeligſten
Voͤlkern finden ſich hierinn oft die groͤßeſten Muſter. Es iſt
nicht Verſtellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare
Tochter zur beſchwerlichen Ehe gezwungen werden muß: ſie
entlaͤuft der Huͤtte, ſie fliehet in die Wuͤſte: mit Thraͤnen
nimmt ſie ihren Brautkranz, denn es iſt die letzte Bluͤthe ihrer
vertaͤndelten, freieren Jugend. Die meiſten Brautlieder ſol-
cher Nationen ſind Aufmunterungs- Troſt- und halbe Trauer-
liedera), uͤber die wir ſpotten, weil wir ihre Unſchuld und
Wahrheit nicht mehr fuͤhlen. Zaͤrtlich nimmt ſie Abſchied
von allem, was ihrer Jugend ſo lieb war: als eine Verſtorbene
verlaͤßt ſie das Haus ihrer Eltern, verlieret ihren vorigen Na-
men und wird das Eigenthum eines Fremden, der vielleicht
ihr Tyrann iſt. Das unſchaͤtzbarſte, was ein Menſch hat,
muß ſie ihm aufopfern, Beſitz ihrer Perſon, Freiheit, Willen,
ja vielleicht Geſundheit und Leben; und das Alles um Reize,
die die keuſche Jungfrau noch nicht kennet und die ihr viel-
leicht bald in einem Meer von Ungemaͤchlichkeit verſchwinden.
Gluͤcklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnenn-
bar-zarten und ſtarken Gefuͤhl fuͤr den perſoͤnlichen Werth des

Mannes
a) S. einige derſelben in den Volksliedern Th. 1. S. 33. Th. 2.
S. 96‒98. S. 104.
Jdeen, II. Th. A a
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[185/0197] ſelbſt als eine geerbte Sitte auflegten und bei den armſeligſten Voͤlkern finden ſich hierinn oft die groͤßeſten Muſter. Es iſt nicht Verſtellung, wenn in vielen Gegenden die mannbare Tochter zur beſchwerlichen Ehe gezwungen werden muß: ſie entlaͤuft der Huͤtte, ſie fliehet in die Wuͤſte: mit Thraͤnen nimmt ſie ihren Brautkranz, denn es iſt die letzte Bluͤthe ihrer vertaͤndelten, freieren Jugend. Die meiſten Brautlieder ſol- cher Nationen ſind Aufmunterungs- Troſt- und halbe Trauer- lieder a), uͤber die wir ſpotten, weil wir ihre Unſchuld und Wahrheit nicht mehr fuͤhlen. Zaͤrtlich nimmt ſie Abſchied von allem, was ihrer Jugend ſo lieb war: als eine Verſtorbene verlaͤßt ſie das Haus ihrer Eltern, verlieret ihren vorigen Na- men und wird das Eigenthum eines Fremden, der vielleicht ihr Tyrann iſt. Das unſchaͤtzbarſte, was ein Menſch hat, muß ſie ihm aufopfern, Beſitz ihrer Perſon, Freiheit, Willen, ja vielleicht Geſundheit und Leben; und das Alles um Reize, die die keuſche Jungfrau noch nicht kennet und die ihr viel- leicht bald in einem Meer von Ungemaͤchlichkeit verſchwinden. Gluͤcklich, daß die Natur das weibliche Herz mit einem unnenn- bar-zarten und ſtarken Gefuͤhl fuͤr den perſoͤnlichen Werth des Mannes a) S. einige derſelben in den Volksliedern Th. 1. S. 33. Th. 2. S. 96‒98. S. 104. Jdeen, II. Th. A a

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/197>, abgerufen am 29.04.2024.