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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die
Eigenheit des Volks erlaubte.



Jst dieses: so wird der Mann dem Weibe nicht nach-
bleiben und welche denkbare männliche Tugend wäre es, die
nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Blüthe gefunden
hätte? Der männliche Muth, auf der Erde zu herrschen und
sein Leben, nicht ohne That, aber gnügsam-frei zu genießen,
ist wohl die Erste Mannes-Tugend: sie hat sich am weitsten
und vielartigsten ausgebildet, weil fast allenthalben die Noth
zu ihr zwang und jeder Erdstrich, jede Sitte sie anders lenkte.
Bald also suchte der Mann in Gefahren Ruhm und der Sieg
über dieselbe war das kostbarste Kleinod seines männlichen Le-
bens. Vom Vater ging diese Neigung auf den Sohn über:
die frühe Erziehung beförderte sie und die Anlage zu ihr ward
in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebohr-
nen Jäger ist die Stimme seines Horns und seiner Hunde,
was sie sonst keinem ist: Eindrücke der Kindheit trugen dazu
bei; oft sogar geht das Jägergesicht und das Jagdgehirn in
die Geschlechter über. So mit allen andern Lebensarten freier,
wirkender Völker. Die Lieder jeder Nation sind über die
ihr eignen Gefühle, Triebe und Seharten die besten Zeugen;
ein wahrer Commentar ihrer Denk- und Empfindungsweise

aus

nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die
Eigenheit des Volks erlaubte.



Jſt dieſes: ſo wird der Mann dem Weibe nicht nach-
bleiben und welche denkbare maͤnnliche Tugend waͤre es, die
nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Bluͤthe gefunden
haͤtte? Der maͤnnliche Muth, auf der Erde zu herrſchen und
ſein Leben, nicht ohne That, aber gnuͤgſam-frei zu genießen,
iſt wohl die Erſte Mannes-Tugend: ſie hat ſich am weitſten
und vielartigſten ausgebildet, weil faſt allenthalben die Noth
zu ihr zwang und jeder Erdſtrich, jede Sitte ſie anders lenkte.
Bald alſo ſuchte der Mann in Gefahren Ruhm und der Sieg
uͤber dieſelbe war das koſtbarſte Kleinod ſeines maͤnnlichen Le-
bens. Vom Vater ging dieſe Neigung auf den Sohn uͤber:
die fruͤhe Erziehung befoͤrderte ſie und die Anlage zu ihr ward
in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebohr-
nen Jaͤger iſt die Stimme ſeines Horns und ſeiner Hunde,
was ſie ſonſt keinem iſt: Eindruͤcke der Kindheit trugen dazu
bei; oft ſogar geht das Jaͤgergeſicht und das Jagdgehirn in
die Geſchlechter uͤber. So mit allen andern Lebensarten freier,
wirkender Voͤlker. Die Lieder jeder Nation ſind uͤber die
ihr eignen Gefuͤhle, Triebe und Seharten die beſten Zeugen;
ein wahrer Commentar ihrer Denk- und Empfindungsweiſe

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[188/0200] nachdem es die Lebensart, das Klima, die Tradition oder die Eigenheit des Volks erlaubte. Jſt dieſes: ſo wird der Mann dem Weibe nicht nach- bleiben und welche denkbare maͤnnliche Tugend waͤre es, die nicht hie und da auf der Erde den Ort ihrer Bluͤthe gefunden haͤtte? Der maͤnnliche Muth, auf der Erde zu herrſchen und ſein Leben, nicht ohne That, aber gnuͤgſam-frei zu genießen, iſt wohl die Erſte Mannes-Tugend: ſie hat ſich am weitſten und vielartigſten ausgebildet, weil faſt allenthalben die Noth zu ihr zwang und jeder Erdſtrich, jede Sitte ſie anders lenkte. Bald alſo ſuchte der Mann in Gefahren Ruhm und der Sieg uͤber dieſelbe war das koſtbarſte Kleinod ſeines maͤnnlichen Le- bens. Vom Vater ging dieſe Neigung auf den Sohn uͤber: die fruͤhe Erziehung befoͤrderte ſie und die Anlage zu ihr ward in wenigen Generationen dem Volk erblich. Dem gebohr- nen Jaͤger iſt die Stimme ſeines Horns und ſeiner Hunde, was ſie ſonſt keinem iſt: Eindruͤcke der Kindheit trugen dazu bei; oft ſogar geht das Jaͤgergeſicht und das Jagdgehirn in die Geſchlechter uͤber. So mit allen andern Lebensarten freier, wirkender Voͤlker. Die Lieder jeder Nation ſind uͤber die ihr eignen Gefuͤhle, Triebe und Seharten die beſten Zeugen; ein wahrer Commentar ihrer Denk- und Empfindungsweiſe aus

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/200>, abgerufen am 29.04.2024.