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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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begleitet; sie allein sind das, was wir Gegenwart des Geistes,
innere Lebenskraft nennen, die sich also auch mit dem Gefühl
einer gegenwärtigen wirksamen Kraft, mit Glückseligkeit und
Freude selbst belohnet. Glaubet es nicht, ihr Menschen, daß
eine unzeitige, maaslose Verfeinerung oder Ausbildung Glück-
seligkeit sei oder daß die todte Nomenclatur aller Wissenschaf-
ten, der seiltänzerische Gebrauch aller Künste einem lebendigen
Wesen die Wissenschaft des Lebens gewähren könne: denn
Gefühl der Glückseligkeit erwirbt sich nicht durch das Recept
auswendiggelernter Namen oder gelernter Künste. Ein mit
Kenntnissen überfülleter Kopf und wenn es auch goldene Kennt-
nisse wären; er erdrücket den Leib, verenget die Brust, verdun-
kelt den Blick und wird dem, der ihn trägt, eine kranke Last des
Lebens. Je mehr wir verfeinernd unsre Seelenkräfte theilen,
desto mehr ersterben die müssigen Kräfte; auf das Gerüst der
Kunst gespannet, verwelken unsre Fähigkeiten und Glieder an
diesem prangenden Kreuze. Nur auf dem Gebrauch der gan-
zen Seele, insonderheit ihrer thätigen Kräfte ruhet der Segen
der Gesundheit; und da lasset uns abermals der Vorsehung
danken, daß sie es mit dem Ganzen des Menschengeschlechts
nicht zu fein nahm und unsre Erde zu nichts weniger als einem
Hörsaal gelehrter Wissenschaften bestimmte. Schonend ließ
sie bei den meisten Völkern und Ständen der Menschheit die
Seelenkräfte in einem vesten Knäuel beisammen und entwickel-

te

begleitet; ſie allein ſind das, was wir Gegenwart des Geiſtes,
innere Lebenskraft nennen, die ſich alſo auch mit dem Gefuͤhl
einer gegenwaͤrtigen wirkſamen Kraft, mit Gluͤckſeligkeit und
Freude ſelbſt belohnet. Glaubet es nicht, ihr Menſchen, daß
eine unzeitige, maasloſe Verfeinerung oder Ausbildung Gluͤck-
ſeligkeit ſei oder daß die todte Nomenclatur aller Wiſſenſchaf-
ten, der ſeiltaͤnzeriſche Gebrauch aller Kuͤnſte einem lebendigen
Weſen die Wiſſenſchaft des Lebens gewaͤhren koͤnne: denn
Gefuͤhl der Gluͤckſeligkeit erwirbt ſich nicht durch das Recept
auswendiggelernter Namen oder gelernter Kuͤnſte. Ein mit
Kenntniſſen uͤberfuͤlleter Kopf und wenn es auch goldene Kennt-
niſſe waͤren; er erdruͤcket den Leib, verenget die Bruſt, verdun-
kelt den Blick und wird dem, der ihn traͤgt, eine kranke Laſt des
Lebens. Je mehr wir verfeinernd unſre Seelenkraͤfte theilen,
deſto mehr erſterben die muͤſſigen Kraͤfte; auf das Geruͤſt der
Kunſt geſpannet, verwelken unſre Faͤhigkeiten und Glieder an
dieſem prangenden Kreuze. Nur auf dem Gebrauch der gan-
zen Seele, inſonderheit ihrer thaͤtigen Kraͤfte ruhet der Segen
der Geſundheit; und da laſſet uns abermals der Vorſehung
danken, daß ſie es mit dem Ganzen des Menſchengeſchlechts
nicht zu fein nahm und unſre Erde zu nichts weniger als einem
Hoͤrſaal gelehrter Wiſſenſchaften beſtimmte. Schonend ließ
ſie bei den meiſten Voͤlkern und Staͤnden der Menſchheit die
Seelenkraͤfte in einem veſten Knaͤuel beiſammen und entwickel-

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[198/0210] begleitet; ſie allein ſind das, was wir Gegenwart des Geiſtes, innere Lebenskraft nennen, die ſich alſo auch mit dem Gefuͤhl einer gegenwaͤrtigen wirkſamen Kraft, mit Gluͤckſeligkeit und Freude ſelbſt belohnet. Glaubet es nicht, ihr Menſchen, daß eine unzeitige, maasloſe Verfeinerung oder Ausbildung Gluͤck- ſeligkeit ſei oder daß die todte Nomenclatur aller Wiſſenſchaf- ten, der ſeiltaͤnzeriſche Gebrauch aller Kuͤnſte einem lebendigen Weſen die Wiſſenſchaft des Lebens gewaͤhren koͤnne: denn Gefuͤhl der Gluͤckſeligkeit erwirbt ſich nicht durch das Recept auswendiggelernter Namen oder gelernter Kuͤnſte. Ein mit Kenntniſſen uͤberfuͤlleter Kopf und wenn es auch goldene Kennt- niſſe waͤren; er erdruͤcket den Leib, verenget die Bruſt, verdun- kelt den Blick und wird dem, der ihn traͤgt, eine kranke Laſt des Lebens. Je mehr wir verfeinernd unſre Seelenkraͤfte theilen, deſto mehr erſterben die muͤſſigen Kraͤfte; auf das Geruͤſt der Kunſt geſpannet, verwelken unſre Faͤhigkeiten und Glieder an dieſem prangenden Kreuze. Nur auf dem Gebrauch der gan- zen Seele, inſonderheit ihrer thaͤtigen Kraͤfte ruhet der Segen der Geſundheit; und da laſſet uns abermals der Vorſehung danken, daß ſie es mit dem Ganzen des Menſchengeſchlechts nicht zu fein nahm und unſre Erde zu nichts weniger als einem Hoͤrſaal gelehrter Wiſſenſchaften beſtimmte. Schonend ließ ſie bei den meiſten Voͤlkern und Staͤnden der Menſchheit die Seelenkraͤfte in einem veſten Knaͤuel beiſammen und entwickel- te

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/210>, abgerufen am 29.04.2024.