Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

sich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch seine,
des Aufnehmenden, Kräfte bestimmt werden; mithin wird die
Erziehung unsres Geschlechts in zwiefachem Sinn genetisch
und organisch: genetisch durch die Mittheilung, organisch
durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgetheilten. Wol-
len wir diese zweite Genesis des Menschen, die sein ganzes Le-
ben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Cultur oder
vom Bilde des Lichts Aufklärung nennen: so stehet uns der
Name frei; die Kette der Cultur und Aufklärung reicht aber
sodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und
Feuerländer lernte Bogen und Pfeile machen und sie gebrau-
chen: er hat Sprache und Begriffe, Uebungen und Künste,
die er lernte, wie wir sie lernen; sofern ward er also wirklich
cultivirt und aufgekläret, wiewohl im niedrigsten Grade. Der
Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen
cultivirten und uncultivirten Völkern ist also nicht specifisch;
sondern nur Gradweise. Das Gemälde der Nationen hat
hier unendliche Schattierungen, die mit den Räumen und Zei-
ten wechseln; es kommt also auch bei ihm, wie bei jedem Ge-
mälde, auf den Standpunkt an, in dem man die Gestalten
wahrnimmt. Legen wir den Begrif der Europäischen Cultur
zum Grunde: so findet sich diese allerdings nur in Europa;
setzen wir gar noch willkührliche Unterschiede zwischen Cultur
und Aufklärung fest, deren keine doch, wenn sie rechter Art ist,

ohne

ſich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch ſeine,
des Aufnehmenden, Kraͤfte beſtimmt werden; mithin wird die
Erziehung unſres Geſchlechts in zwiefachem Sinn genetiſch
und organiſch: genetiſch durch die Mittheilung, organiſch
durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgetheilten. Wol-
len wir dieſe zweite Geneſis des Menſchen, die ſein ganzes Le-
ben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Cultur oder
vom Bilde des Lichts Aufklaͤrung nennen: ſo ſtehet uns der
Name frei; die Kette der Cultur und Aufklaͤrung reicht aber
ſodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und
Feuerlaͤnder lernte Bogen und Pfeile machen und ſie gebrau-
chen: er hat Sprache und Begriffe, Uebungen und Kuͤnſte,
die er lernte, wie wir ſie lernen; ſofern ward er alſo wirklich
cultivirt und aufgeklaͤret, wiewohl im niedrigſten Grade. Der
Unterſchied zwiſchen aufgeklaͤrten und unaufgeklaͤrten, zwiſchen
cultivirten und uncultivirten Voͤlkern iſt alſo nicht ſpecifiſch;
ſondern nur Gradweiſe. Das Gemaͤlde der Nationen hat
hier unendliche Schattierungen, die mit den Raͤumen und Zei-
ten wechſeln; es kommt alſo auch bei ihm, wie bei jedem Ge-
maͤlde, auf den Standpunkt an, in dem man die Geſtalten
wahrnimmt. Legen wir den Begrif der Europaͤiſchen Cultur
zum Grunde: ſo findet ſich dieſe allerdings nur in Europa;
ſetzen wir gar noch willkuͤhrliche Unterſchiede zwiſchen Cultur
und Aufklaͤrung feſt, deren keine doch, wenn ſie rechter Art iſt,

ohne
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0227" n="215"/>
&#x017F;ich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch &#x017F;eine,<lb/>
des Aufnehmenden, Kra&#x0364;fte be&#x017F;timmt werden; mithin wird die<lb/>
Erziehung un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts in zwiefachem Sinn geneti&#x017F;ch<lb/>
und organi&#x017F;ch: geneti&#x017F;ch durch die Mittheilung, organi&#x017F;ch<lb/>
durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgetheilten. Wol-<lb/>
len wir die&#x017F;e zweite Gene&#x017F;is des Men&#x017F;chen, die &#x017F;ein ganzes Le-<lb/>
ben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers <hi rendition="#fr">Cultur</hi> oder<lb/>
vom Bilde des Lichts <hi rendition="#fr">Aufkla&#x0364;rung</hi> nennen: &#x017F;o &#x017F;tehet uns der<lb/>
Name frei; die Kette der Cultur und Aufkla&#x0364;rung reicht aber<lb/>
&#x017F;odann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und<lb/>
Feuerla&#x0364;nder lernte Bogen und Pfeile machen und &#x017F;ie gebrau-<lb/>
chen: er hat Sprache und Begriffe, Uebungen und Ku&#x0364;n&#x017F;te,<lb/>
die er lernte, wie wir &#x017F;ie lernen; &#x017F;ofern ward er al&#x017F;o wirklich<lb/>
cultivirt und aufgekla&#x0364;ret, wiewohl im niedrig&#x017F;ten Grade. Der<lb/>
Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen aufgekla&#x0364;rten und unaufgekla&#x0364;rten, zwi&#x017F;chen<lb/>
cultivirten und uncultivirten Vo&#x0364;lkern i&#x017F;t al&#x017F;o nicht &#x017F;pecifi&#x017F;ch;<lb/>
&#x017F;ondern nur Gradwei&#x017F;e. Das Gema&#x0364;lde der Nationen hat<lb/>
hier unendliche Schattierungen, die mit den Ra&#x0364;umen und Zei-<lb/>
ten wech&#x017F;eln; es kommt al&#x017F;o auch bei ihm, wie bei jedem Ge-<lb/>
ma&#x0364;lde, auf den Standpunkt an, in dem man die Ge&#x017F;talten<lb/>
wahrnimmt. Legen wir den Begrif der Europa&#x0364;i&#x017F;chen Cultur<lb/>
zum Grunde: &#x017F;o findet &#x017F;ich die&#x017F;e allerdings nur in Europa;<lb/>
&#x017F;etzen wir gar noch willku&#x0364;hrliche Unter&#x017F;chiede zwi&#x017F;chen Cultur<lb/>
und Aufkla&#x0364;rung fe&#x017F;t, deren keine doch, wenn &#x017F;ie rechter Art i&#x017F;t,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ohne</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0227] ſich zueigne, nutze und anwende? das kann nur durch ſeine, des Aufnehmenden, Kraͤfte beſtimmt werden; mithin wird die Erziehung unſres Geſchlechts in zwiefachem Sinn genetiſch und organiſch: genetiſch durch die Mittheilung, organiſch durch die Aufnahme und Anwendung des Mitgetheilten. Wol- len wir dieſe zweite Geneſis des Menſchen, die ſein ganzes Le- ben durchgeht, von der Bearbeitung des Ackers Cultur oder vom Bilde des Lichts Aufklaͤrung nennen: ſo ſtehet uns der Name frei; die Kette der Cultur und Aufklaͤrung reicht aber ſodann bis ans Ende der Erde. Auch der Californier und Feuerlaͤnder lernte Bogen und Pfeile machen und ſie gebrau- chen: er hat Sprache und Begriffe, Uebungen und Kuͤnſte, die er lernte, wie wir ſie lernen; ſofern ward er alſo wirklich cultivirt und aufgeklaͤret, wiewohl im niedrigſten Grade. Der Unterſchied zwiſchen aufgeklaͤrten und unaufgeklaͤrten, zwiſchen cultivirten und uncultivirten Voͤlkern iſt alſo nicht ſpecifiſch; ſondern nur Gradweiſe. Das Gemaͤlde der Nationen hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Raͤumen und Zei- ten wechſeln; es kommt alſo auch bei ihm, wie bei jedem Ge- maͤlde, auf den Standpunkt an, in dem man die Geſtalten wahrnimmt. Legen wir den Begrif der Europaͤiſchen Cultur zum Grunde: ſo findet ſich dieſe allerdings nur in Europa; ſetzen wir gar noch willkuͤhrliche Unterſchiede zwiſchen Cultur und Aufklaͤrung feſt, deren keine doch, wenn ſie rechter Art iſt, ohne

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/227
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/227>, abgerufen am 29.04.2024.