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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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ohne die andre seyn kann: so entfernen wir uns noch weiter
ins Land der Wolken. Bleiben wir aber auf der Erde und
sehen im allgemeinsten Umfange das an, was uns die Natur,
die den Zweck und Charakter ihres Geschöpfs am besten ken-
nen mußte, als menschliche Bildung selbst vor Augen legt,
so ist dies keine andre als die Tradition einer Erziehung
zu irgend einer Form menschlicher Glückseligkeit und
Lebensweise.
Diese ist allgemein wie das Menschenge-
schlecht; ja unter den Wilden oft am thätigsten, wiewohl nur
in einem engern Kreise. Bleibt der Mensch unter Menschen:
so kann er dieser bildenden oder mißbildenden Cultur nicht ent-
weichen: Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und
bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden
lassen: so wird der Mensch, so ist er gestaltet. Selbst Kin-
der, die unter die Thiere geriethen, nahmen, wenn sie einige
Zeit bei Menschen gelebt hatten, schon menschliche Cultur un-
ter dieselbe, wie die bekannten meisten Exempel beweisen; da-
gegen ein Kind, das vom ersten Augenblick der Geburt an der
Wölfin übergeben würde, der einzige uncultivirte Mensch auf
der Erde wäre.

Was folgt aus diesem vesten und durch die ganze Ge-
schichte unsres Geschlechts bewährten Gesichtspunkt? Zuerst
ein Grundsatz, der, wie unserm Leben so auch dieser Betrach-

tung

ohne die andre ſeyn kann: ſo entfernen wir uns noch weiter
ins Land der Wolken. Bleiben wir aber auf der Erde und
ſehen im allgemeinſten Umfange das an, was uns die Natur,
die den Zweck und Charakter ihres Geſchoͤpfs am beſten ken-
nen mußte, als menſchliche Bildung ſelbſt vor Augen legt,
ſo iſt dies keine andre als die Tradition einer Erziehung
zu irgend einer Form menſchlicher Gluͤckſeligkeit und
Lebensweiſe.
Dieſe iſt allgemein wie das Menſchenge-
ſchlecht; ja unter den Wilden oft am thaͤtigſten, wiewohl nur
in einem engern Kreiſe. Bleibt der Menſch unter Menſchen:
ſo kann er dieſer bildenden oder mißbildenden Cultur nicht ent-
weichen: Tradition tritt zu ihm und formt ſeinen Kopf und
bildet ſeine Glieder. Wie jene iſt, und wie dieſe ſich bilden
laſſen: ſo wird der Menſch, ſo iſt er geſtaltet. Selbſt Kin-
der, die unter die Thiere geriethen, nahmen, wenn ſie einige
Zeit bei Menſchen gelebt hatten, ſchon menſchliche Cultur un-
ter dieſelbe, wie die bekannten meiſten Exempel beweiſen; da-
gegen ein Kind, das vom erſten Augenblick der Geburt an der
Woͤlfin uͤbergeben wuͤrde, der einzige uncultivirte Menſch auf
der Erde waͤre.

Was folgt aus dieſem veſten und durch die ganze Ge-
ſchichte unſres Geſchlechts bewaͤhrten Geſichtspunkt? Zuerſt
ein Grundſatz, der, wie unſerm Leben ſo auch dieſer Betrach-

tung
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[216/0228] ohne die andre ſeyn kann: ſo entfernen wir uns noch weiter ins Land der Wolken. Bleiben wir aber auf der Erde und ſehen im allgemeinſten Umfange das an, was uns die Natur, die den Zweck und Charakter ihres Geſchoͤpfs am beſten ken- nen mußte, als menſchliche Bildung ſelbſt vor Augen legt, ſo iſt dies keine andre als die Tradition einer Erziehung zu irgend einer Form menſchlicher Gluͤckſeligkeit und Lebensweiſe. Dieſe iſt allgemein wie das Menſchenge- ſchlecht; ja unter den Wilden oft am thaͤtigſten, wiewohl nur in einem engern Kreiſe. Bleibt der Menſch unter Menſchen: ſo kann er dieſer bildenden oder mißbildenden Cultur nicht ent- weichen: Tradition tritt zu ihm und formt ſeinen Kopf und bildet ſeine Glieder. Wie jene iſt, und wie dieſe ſich bilden laſſen: ſo wird der Menſch, ſo iſt er geſtaltet. Selbſt Kin- der, die unter die Thiere geriethen, nahmen, wenn ſie einige Zeit bei Menſchen gelebt hatten, ſchon menſchliche Cultur un- ter dieſelbe, wie die bekannten meiſten Exempel beweiſen; da- gegen ein Kind, das vom erſten Augenblick der Geburt an der Woͤlfin uͤbergeben wuͤrde, der einzige uncultivirte Menſch auf der Erde waͤre. Was folgt aus dieſem veſten und durch die ganze Ge- ſchichte unſres Geſchlechts bewaͤhrten Geſichtspunkt? Zuerſt ein Grundſatz, der, wie unſerm Leben ſo auch dieſer Betrach- tung

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/228>, abgerufen am 29.04.2024.