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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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ken sind oder erschreckende Misgestalten werden. Grausenvoll
ist der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Trümmer
auf Trümmern zu sehen, ewige Anfänge ohne Ende, Umwäl-
zungen des Schicksals ohne dauernde Absicht! Die Kette der
Bildung allein macht aus diesen Trümmern ein Ganzes, in
welchem zwar Menschengestalten verschwinden, aber der Men-
schengeist unsterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Na-
men, die in der Geschichte der Cultur als Genien des Men-
schengeschlechts, als glänzende Sterne in der Nacht der Zeiten
schimmern! Laß es seyn, daß der Verfolg der Aeonen manches
von ihrem Gebäude zertrümmerte und vieles Gold in den
Schlamm der Vergessenheit senkte; die Mühe ihres Men-
schenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vor-
sehung von ihrem Werk retten wollte, rettete sie in andern Ge-
stalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menschendenk-
mal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen
nur von den Händen der Zeit für die Zeit errichtet war und au-
genblicklich der Nachwelt verderblich wird, sobald es ihr neues
Bestreben unnöthig macht oder aufhält. Auch die wandel-
bare Gestalt und die Unvollkommenheit aller menschlichen
Wirkung lag also im Plan des Schöpfers. Thorheit mußte
erscheinen, damit die Weisheit sie überwinde: zerfallende Brech-
lichkeit auch der schönsten Werke war von ihrer Materie unzer-
trennlich, damit auf den Trümmern derselben eine neue bessern-

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ken ſind oder erſchreckende Misgeſtalten werden. Grauſenvoll
iſt der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Truͤmmer
auf Truͤmmern zu ſehen, ewige Anfaͤnge ohne Ende, Umwaͤl-
zungen des Schickſals ohne dauernde Abſicht! Die Kette der
Bildung allein macht aus dieſen Truͤmmern ein Ganzes, in
welchem zwar Menſchengeſtalten verſchwinden, aber der Men-
ſchengeiſt unſterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Na-
men, die in der Geſchichte der Cultur als Genien des Men-
ſchengeſchlechts, als glaͤnzende Sterne in der Nacht der Zeiten
ſchimmern! Laß es ſeyn, daß der Verfolg der Aeonen manches
von ihrem Gebaͤude zertruͤmmerte und vieles Gold in den
Schlamm der Vergeſſenheit ſenkte; die Muͤhe ihres Men-
ſchenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vor-
ſehung von ihrem Werk retten wollte, rettete ſie in andern Ge-
ſtalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menſchendenk-
mal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen
nur von den Haͤnden der Zeit fuͤr die Zeit errichtet war und au-
genblicklich der Nachwelt verderblich wird, ſobald es ihr neues
Beſtreben unnoͤthig macht oder aufhaͤlt. Auch die wandel-
bare Geſtalt und die Unvollkommenheit aller menſchlichen
Wirkung lag alſo im Plan des Schoͤpfers. Thorheit mußte
erſcheinen, damit die Weisheit ſie uͤberwinde: zerfallende Brech-
lichkeit auch der ſchoͤnſten Werke war von ihrer Materie unzer-
trennlich, damit auf den Truͤmmern derſelben eine neue beſſern-

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[221/0233] ken ſind oder erſchreckende Misgeſtalten werden. Grauſenvoll iſt der Anblick, in den Revolutionen der Erde nur Truͤmmer auf Truͤmmern zu ſehen, ewige Anfaͤnge ohne Ende, Umwaͤl- zungen des Schickſals ohne dauernde Abſicht! Die Kette der Bildung allein macht aus dieſen Truͤmmern ein Ganzes, in welchem zwar Menſchengeſtalten verſchwinden, aber der Men- ſchengeiſt unſterblich und fortwirkend lebet. Glorreiche Na- men, die in der Geſchichte der Cultur als Genien des Men- ſchengeſchlechts, als glaͤnzende Sterne in der Nacht der Zeiten ſchimmern! Laß es ſeyn, daß der Verfolg der Aeonen manches von ihrem Gebaͤude zertruͤmmerte und vieles Gold in den Schlamm der Vergeſſenheit ſenkte; die Muͤhe ihres Men- ſchenlebens war dennoch nicht vergeblich: denn was die Vor- ſehung von ihrem Werk retten wollte, rettete ſie in andern Ge- ſtalten. Ganz und ewig kann ohnedies kein Menſchendenk- mal auf der Erde dauern, da es im Strom der Generationen nur von den Haͤnden der Zeit fuͤr die Zeit errichtet war und au- genblicklich der Nachwelt verderblich wird, ſobald es ihr neues Beſtreben unnoͤthig macht oder aufhaͤlt. Auch die wandel- bare Geſtalt und die Unvollkommenheit aller menſchlichen Wirkung lag alſo im Plan des Schoͤpfers. Thorheit mußte erſcheinen, damit die Weisheit ſie uͤberwinde: zerfallende Brech- lichkeit auch der ſchoͤnſten Werke war von ihrer Materie unzer- trennlich, damit auf den Truͤmmern derſelben eine neue beſſern- de E e 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/233>, abgerufen am 29.04.2024.