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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Durch alle diese Mimik indessen wäre der Mensch noch
nicht zu seinem künstlichen Geschlechtscharakter, der Vernunft
gekommen; zu ihr kommt er allein durch Sprache. Lasset uns
bei diesem Wunder einer göttlichen Einsetzung verweilen: es
ist außer der Genesis lebendiger Wesen vielleicht das größeste
der Erdeschöpfung.

Wenn uns jemand ein Räthsel vorlegte, wie Bilder des
Auges und alle Empfindungen unsrer verschiedensten Sinne
nicht nur in Töne gefaßt sondern auch diesen Tönen mit in-
wohnender Kraft so mitgetheilt werden sollen, daß sie Gedan-
ken ausdrücken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte
man dies Problem für den Einfall eines Wahnsinnigen, der
höchst ungleiche Dinge einander substituirend, die Farbe zum
Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden
Schall zu machen gedächte. Die Gottheit hat das Problem
thätig aufgelöset. Ein Hauch unsres Mundes wird das Ge-
mählde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle
in des andern Seele. Von einem bewegten Lüftchen hangt
alles ab, was Menschen je auf der Erde menschliches dachten,
wollten, thaten und thun werden: denn alle liefen wir noch in
Wäldern umher, wenn nicht dieser göttliche Othem uns ange-
haucht hätte und wie ein Zauberton auf unsern Lippen schwebte.
Die ganze Geschichte der Menschheit also mit allen Schätzen

ihrer
Jdeen, II. Th. F f

Durch alle dieſe Mimik indeſſen waͤre der Menſch noch
nicht zu ſeinem kuͤnſtlichen Geſchlechtscharakter, der Vernunft
gekommen; zu ihr kommt er allein durch Sprache. Laſſet uns
bei dieſem Wunder einer goͤttlichen Einſetzung verweilen: es
iſt außer der Geneſis lebendiger Weſen vielleicht das groͤßeſte
der Erdeſchoͤpfung.

Wenn uns jemand ein Raͤthſel vorlegte, wie Bilder des
Auges und alle Empfindungen unſrer verſchiedenſten Sinne
nicht nur in Toͤne gefaßt ſondern auch dieſen Toͤnen mit in-
wohnender Kraft ſo mitgetheilt werden ſollen, daß ſie Gedan-
ken ausdruͤcken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte
man dies Problem fuͤr den Einfall eines Wahnſinnigen, der
hoͤchſt ungleiche Dinge einander ſubſtituirend, die Farbe zum
Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden
Schall zu machen gedaͤchte. Die Gottheit hat das Problem
thaͤtig aufgeloͤſet. Ein Hauch unſres Mundes wird das Ge-
maͤhlde der Welt, der Typus unſrer Gedanken und Gefuͤhle
in des andern Seele. Von einem bewegten Luͤftchen hangt
alles ab, was Menſchen je auf der Erde menſchliches dachten,
wollten, thaten und thun werden: denn alle liefen wir noch in
Waͤldern umher, wenn nicht dieſer goͤttliche Othem uns ange-
haucht haͤtte und wie ein Zauberton auf unſern Lippen ſchwebte.
Die ganze Geſchichte der Menſchheit alſo mit allen Schaͤtzen

ihrer
Jdeen, II. Th. F f
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[225/0237] Durch alle dieſe Mimik indeſſen waͤre der Menſch noch nicht zu ſeinem kuͤnſtlichen Geſchlechtscharakter, der Vernunft gekommen; zu ihr kommt er allein durch Sprache. Laſſet uns bei dieſem Wunder einer goͤttlichen Einſetzung verweilen: es iſt außer der Geneſis lebendiger Weſen vielleicht das groͤßeſte der Erdeſchoͤpfung. Wenn uns jemand ein Raͤthſel vorlegte, wie Bilder des Auges und alle Empfindungen unſrer verſchiedenſten Sinne nicht nur in Toͤne gefaßt ſondern auch dieſen Toͤnen mit in- wohnender Kraft ſo mitgetheilt werden ſollen, daß ſie Gedan- ken ausdruͤcken und Gedanken erregen; ohne Zweifel hielte man dies Problem fuͤr den Einfall eines Wahnſinnigen, der hoͤchſt ungleiche Dinge einander ſubſtituirend, die Farbe zum Ton, den Ton zum Gedanken, den Gedanken zum malenden Schall zu machen gedaͤchte. Die Gottheit hat das Problem thaͤtig aufgeloͤſet. Ein Hauch unſres Mundes wird das Ge- maͤhlde der Welt, der Typus unſrer Gedanken und Gefuͤhle in des andern Seele. Von einem bewegten Luͤftchen hangt alles ab, was Menſchen je auf der Erde menſchliches dachten, wollten, thaten und thun werden: denn alle liefen wir noch in Waͤldern umher, wenn nicht dieſer goͤttliche Othem uns ange- haucht haͤtte und wie ein Zauberton auf unſern Lippen ſchwebte. Die ganze Geſchichte der Menſchheit alſo mit allen Schaͤtzen ihrer Jdeen, II. Th. F f

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/237>, abgerufen am 29.04.2024.