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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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ihrer Tradition und Cultur ist nichts als eine Folge dieses
aufgelösten göttlichen Räthsels. Was uns dasselbe noch son-
derbarer macht, ist, daß wir selbst nach seiner Auflösung bei
täglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zusammenhang
der Werkzeuge dazu begreifen. Gehör und Sprache hangen
zusammen: denn bei den Abartungen der Geschöpfe verändern
sich ihre Organe offenbar mit einander. Auch sehen wir, daß
zu ihrem Consensus der ganze Körper eingerichtet worden;
die innere Art der Zusammenwirkung aber begreifen wir nicht.
Daß alle Affekten, insonderheit Schmerz und Freude Töne wer-
den, daß was unser Ohr hört, auch die Zunge reget, daß Bil-
der und Empfindungen geistige Merkmale, daß diese Merk-
male bedeutende, ja bewegende Sprache seyn können -- das
Alles ist ein Concent so vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund
gleichsam, den der Schöpfer zwischen den verschiedensten Sin-
nen und Trieben, Kräften und Gliedern seines Geschöpfs eben
so wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu-
sammenfügte.

Wie sonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige,
wenigstens das beste Mittel unsrer Gedanken und Empfindun-
gen seyn sollte! Ohne sein unbegreifliches Band mit allen ihm
so ungleichen Handlungen unsrer Seele wären diese Handlun-
gen ungeschehen, die feinen Zubereitungen unsres Gehirns mü-

ßig,

ihrer Tradition und Cultur iſt nichts als eine Folge dieſes
aufgeloͤſten goͤttlichen Raͤthſels. Was uns daſſelbe noch ſon-
derbarer macht, iſt, daß wir ſelbſt nach ſeiner Aufloͤſung bei
taͤglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zuſammenhang
der Werkzeuge dazu begreifen. Gehoͤr und Sprache hangen
zuſammen: denn bei den Abartungen der Geſchoͤpfe veraͤndern
ſich ihre Organe offenbar mit einander. Auch ſehen wir, daß
zu ihrem Conſenſus der ganze Koͤrper eingerichtet worden;
die innere Art der Zuſammenwirkung aber begreifen wir nicht.
Daß alle Affekten, inſonderheit Schmerz und Freude Toͤne wer-
den, daß was unſer Ohr hoͤrt, auch die Zunge reget, daß Bil-
der und Empfindungen geiſtige Merkmale, daß dieſe Merk-
male bedeutende, ja bewegende Sprache ſeyn koͤnnen — das
Alles iſt ein Concent ſo vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund
gleichſam, den der Schoͤpfer zwiſchen den verſchiedenſten Sin-
nen und Trieben, Kraͤften und Gliedern ſeines Geſchoͤpfs eben
ſo wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu-
ſammenfuͤgte.

Wie ſonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige,
wenigſtens das beſte Mittel unſrer Gedanken und Empfindun-
gen ſeyn ſollte! Ohne ſein unbegreifliches Band mit allen ihm
ſo ungleichen Handlungen unſrer Seele waͤren dieſe Handlun-
gen ungeſchehen, die feinen Zubereitungen unſres Gehirns muͤ-

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[226/0238] ihrer Tradition und Cultur iſt nichts als eine Folge dieſes aufgeloͤſten goͤttlichen Raͤthſels. Was uns daſſelbe noch ſon- derbarer macht, iſt, daß wir ſelbſt nach ſeiner Aufloͤſung bei taͤglichem Gebrauch der Rede nicht einmal den Zuſammenhang der Werkzeuge dazu begreifen. Gehoͤr und Sprache hangen zuſammen: denn bei den Abartungen der Geſchoͤpfe veraͤndern ſich ihre Organe offenbar mit einander. Auch ſehen wir, daß zu ihrem Conſenſus der ganze Koͤrper eingerichtet worden; die innere Art der Zuſammenwirkung aber begreifen wir nicht. Daß alle Affekten, inſonderheit Schmerz und Freude Toͤne wer- den, daß was unſer Ohr hoͤrt, auch die Zunge reget, daß Bil- der und Empfindungen geiſtige Merkmale, daß dieſe Merk- male bedeutende, ja bewegende Sprache ſeyn koͤnnen — das Alles iſt ein Concent ſo vieler Anlagen, ein freiwilliger Bund gleichſam, den der Schoͤpfer zwiſchen den verſchiedenſten Sin- nen und Trieben, Kraͤften und Gliedern ſeines Geſchoͤpfs eben ſo wunderbar hat errichten wollen, als er Leib und Seele zu- ſammenfuͤgte. Wie ſonderbar, daß ein bewegter Lufthauch das einzige, wenigſtens das beſte Mittel unſrer Gedanken und Empfindun- gen ſeyn ſollte! Ohne ſein unbegreifliches Band mit allen ihm ſo ungleichen Handlungen unſrer Seele waͤren dieſe Handlun- gen ungeſchehen, die feinen Zubereitungen unſres Gehirns muͤ- ßig,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/238>, abgerufen am 29.04.2024.