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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der
Seele möglich. Noch jetzt sehe ich die Helden Homers und
fühle Oßians Klagen, obgleich die Schatten der Sänger und
ihrer Helden so lange der Erde entflohn sind. Ein bewegter
Hauch des Mundes hat sie unsterblich gemacht und bringt ihre
Gestalten vor mich; die Stimme der Verstorbenen ist in meinem
Ohr: ich höre ihre längstverstummeten Gedanken. Was je
der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit
dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, al-
lein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende See-
le an die Seele des ersten und vielleicht des letzten denkenden
Menschen geknüpfet: kurz Sprache ist der Charakter unsrer
Vernunft, durch welchen sie allein Gestalt gewinnet und sich
fortpflanzet.

Jndessen zeigt eine kleine nähere Ansicht, wie unvollkom-
men dies Mittel unsrer Bildung sei, nicht nur als Werkzeug
der Vernunft, sondern auch als Band zwischen Menschen und
Menschen betrachtet; so daß man sich beinah kein unwesenhaf-
teres, leichteres, flüchtigeres Gewebe denken kann, als womit
der Schöpfer unser Geschlecht verknüpfen wollte. Gütiger
Vater, war kein andrer Calcul unsrer Gedanken, war keine in-
nigere Verbindung menschlicher Geister und Herzen möglich?

1. Keine

der Menſchheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der
Seele moͤglich. Noch jetzt ſehe ich die Helden Homers und
fuͤhle Oßians Klagen, obgleich die Schatten der Saͤnger und
ihrer Helden ſo lange der Erde entflohn ſind. Ein bewegter
Hauch des Mundes hat ſie unſterblich gemacht und bringt ihre
Geſtalten vor mich; die Stimme der Verſtorbenen iſt in meinem
Ohr: ich hoͤre ihre laͤngſtverſtummeten Gedanken. Was je
der Geiſt der Menſchen ausſann, was die Weiſen der Vorzeit
dachten, kommt, wenn es mir die Vorſehung gegoͤnnt hat, al-
lein durch Sprache zu mir. Durch ſie iſt meine denkende See-
le an die Seele des erſten und vielleicht des letzten denkenden
Menſchen geknuͤpfet: kurz Sprache iſt der Charakter unſrer
Vernunft, durch welchen ſie allein Geſtalt gewinnet und ſich
fortpflanzet.

Jndeſſen zeigt eine kleine naͤhere Anſicht, wie unvollkom-
men dies Mittel unſrer Bildung ſei, nicht nur als Werkzeug
der Vernunft, ſondern auch als Band zwiſchen Menſchen und
Menſchen betrachtet; ſo daß man ſich beinah kein unweſenhaf-
teres, leichteres, fluͤchtigeres Gewebe denken kann, als womit
der Schoͤpfer unſer Geſchlecht verknuͤpfen wollte. Guͤtiger
Vater, war kein andrer Calcul unſrer Gedanken, war keine in-
nigere Verbindung menſchlicher Geiſter und Herzen moͤglich?

1. Keine
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[228/0240] der Menſchheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele moͤglich. Noch jetzt ſehe ich die Helden Homers und fuͤhle Oßians Klagen, obgleich die Schatten der Saͤnger und ihrer Helden ſo lange der Erde entflohn ſind. Ein bewegter Hauch des Mundes hat ſie unſterblich gemacht und bringt ihre Geſtalten vor mich; die Stimme der Verſtorbenen iſt in meinem Ohr: ich hoͤre ihre laͤngſtverſtummeten Gedanken. Was je der Geiſt der Menſchen ausſann, was die Weiſen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorſehung gegoͤnnt hat, al- lein durch Sprache zu mir. Durch ſie iſt meine denkende See- le an die Seele des erſten und vielleicht des letzten denkenden Menſchen geknuͤpfet: kurz Sprache iſt der Charakter unſrer Vernunft, durch welchen ſie allein Geſtalt gewinnet und ſich fortpflanzet. Jndeſſen zeigt eine kleine naͤhere Anſicht, wie unvollkom- men dies Mittel unſrer Bildung ſei, nicht nur als Werkzeug der Vernunft, ſondern auch als Band zwiſchen Menſchen und Menſchen betrachtet; ſo daß man ſich beinah kein unweſenhaf- teres, leichteres, fluͤchtigeres Gewebe denken kann, als womit der Schoͤpfer unſer Geſchlecht verknuͤpfen wollte. Guͤtiger Vater, war kein andrer Calcul unſrer Gedanken, war keine in- nigere Verbindung menſchlicher Geiſter und Herzen moͤglich? 1. Keine

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/240>, abgerufen am 29.04.2024.