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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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1. Keine Sprache druckt Sachen aus, sondern
nur Namen: auch keine menschliche Vernunft also er-
kennt Sachen, sondern sie hat nur Merkmale von ih-
nen, die sie mit Worten bezeichnet;
eine demüthigende
Bemerkung, die der ganzen Geschichte unsres Verstandes en-
ge Grenzen und eine sehr unwesenhafte Gestalt giebt. Alle
unsre Metaphysik ist Metaphysik, d. i. ein abgezognes, geord-
netes Namenregister hinter Beobachtungen der Erfahrung.
Als Ordnung und Register kann diese Wissenschaft sehr brauch-
bar seyn und muß gewissermaasse in allen andern unsern künst-
lichen Verstand leiten; für sich aber und als Natur der Sa-
che betrachtet, giebt sie keinen einzigen vollständigen und we-
sentlichen Begrif, keine einzige innige Wahrheit. All' unsre
Wissenschaft rechnet mit abgezognen einzelnen äußern Merk-
malen, die das Jnnere der Exsistenz keines einzigen Dinges
berühren, weil zu dessen Empfindung und Ausdruck wir
durchaus kein Organ haben. Keine Kraft in ihrem Wesen
kennen wir, können sie auch nie kennen lernen: denn selbst
die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und fühlen
wir zwar, aber wir kennen sie nicht. Keinen Zusammenhang
zwischen Ursache und Wirkung verstehen wir also, da wir we-
der das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Jnnern ein-
sehn und vom Seyn eines Dinges durchaus keinen Begrif

haben.
F f 3

1. Keine Sprache druckt Sachen aus, ſondern
nur Namen: auch keine menſchliche Vernunft alſo er-
kennt Sachen, ſondern ſie hat nur Merkmale von ih-
nen, die ſie mit Worten bezeichnet;
eine demuͤthigende
Bemerkung, die der ganzen Geſchichte unſres Verſtandes en-
ge Grenzen und eine ſehr unweſenhafte Geſtalt giebt. Alle
unſre Metaphyſik iſt Metaphyſik, d. i. ein abgezognes, geord-
netes Namenregiſter hinter Beobachtungen der Erfahrung.
Als Ordnung und Regiſter kann dieſe Wiſſenſchaft ſehr brauch-
bar ſeyn und muß gewiſſermaaſſe in allen andern unſern kuͤnſt-
lichen Verſtand leiten; fuͤr ſich aber und als Natur der Sa-
che betrachtet, giebt ſie keinen einzigen vollſtaͤndigen und we-
ſentlichen Begrif, keine einzige innige Wahrheit. All' unſre
Wiſſenſchaft rechnet mit abgezognen einzelnen aͤußern Merk-
malen, die das Jnnere der Exſiſtenz keines einzigen Dinges
beruͤhren, weil zu deſſen Empfindung und Ausdruck wir
durchaus kein Organ haben. Keine Kraft in ihrem Weſen
kennen wir, koͤnnen ſie auch nie kennen lernen: denn ſelbſt
die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und fuͤhlen
wir zwar, aber wir kennen ſie nicht. Keinen Zuſammenhang
zwiſchen Urſache und Wirkung verſtehen wir alſo, da wir we-
der das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Jnnern ein-
ſehn und vom Seyn eines Dinges durchaus keinen Begrif

haben.
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[229/0241] 1. Keine Sprache druckt Sachen aus, ſondern nur Namen: auch keine menſchliche Vernunft alſo er- kennt Sachen, ſondern ſie hat nur Merkmale von ih- nen, die ſie mit Worten bezeichnet; eine demuͤthigende Bemerkung, die der ganzen Geſchichte unſres Verſtandes en- ge Grenzen und eine ſehr unweſenhafte Geſtalt giebt. Alle unſre Metaphyſik iſt Metaphyſik, d. i. ein abgezognes, geord- netes Namenregiſter hinter Beobachtungen der Erfahrung. Als Ordnung und Regiſter kann dieſe Wiſſenſchaft ſehr brauch- bar ſeyn und muß gewiſſermaaſſe in allen andern unſern kuͤnſt- lichen Verſtand leiten; fuͤr ſich aber und als Natur der Sa- che betrachtet, giebt ſie keinen einzigen vollſtaͤndigen und we- ſentlichen Begrif, keine einzige innige Wahrheit. All' unſre Wiſſenſchaft rechnet mit abgezognen einzelnen aͤußern Merk- malen, die das Jnnere der Exſiſtenz keines einzigen Dinges beruͤhren, weil zu deſſen Empfindung und Ausdruck wir durchaus kein Organ haben. Keine Kraft in ihrem Weſen kennen wir, koͤnnen ſie auch nie kennen lernen: denn ſelbſt die, die uns belebt, die in uns denket, genießen und fuͤhlen wir zwar, aber wir kennen ſie nicht. Keinen Zuſammenhang zwiſchen Urſache und Wirkung verſtehen wir alſo, da wir we- der das, was wirkt, noch was gewirkt wird, im Jnnern ein- ſehn und vom Seyn eines Dinges durchaus keinen Begrif haben. F f 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/241>, abgerufen am 29.04.2024.