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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Kreise. Nicht für die reine Anschauung, die entweder ein
Trug ist, weil kein Mensch das Jnnere der Sachen siehet oder
die wenigstens, da sie keine Merkmale und Worte zuläßt,
ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anschauende
den andern auf den Weg zu führen, auf dem Er zu seinen un-
nennbaren Schätzen gelangte und muß es ihm selbst und sei-
nem Genius überlassen, wiefern auch Er dieser Anschauun-
gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte
zu tausend vergeblichen Quaalen des Geistes und zu unzähli-
chen Arten des listigen Betruges eröfnet, wie die Geschichte
aller Völker zeiget. Zur Speculation kann der Mensch eben
so wenig geschaffen seyn, da sie ihrer Genesis und Mitthei-
lung nach nicht vollkommener ist und nur zu bald die Köpfe der
Nachbeter mit tauben Worten erfüllet. Ja wenn sich diese
beide Extreme, Spekulation und Anschauung gar gesellen wol-
len, und der metaphysische Schwärmer auf eine Wortlose
Vernunft voll Anschauungen weiset: armes Menschenge-
schlecht, so schwebst du gar im Raum der Undinge zwischen
kalter Hitze und warmer Kälte. Durch die Sprache hat uns
die Gottheit auf einen sicherern, den Mittelweg geführet.
Nur Verstandesideen sinds, die wir durch sie erlangen und
die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unsrer Kräfte,
zum gesunden Gebrauch unsres Lebens, kurz zu Bildung der
Humanität in uns gnug sind. Nicht Aether sollen wir ath-

men,

Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein
Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder
die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt,
ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende
den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un-
nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei-
nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun-
gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte
zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli-
chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte
aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben
ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei-
lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der
Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe
beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol-
len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe
Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge-
ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen
kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns
die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret.
Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und
die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte,
zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der
Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath-

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[232/0244] Kreiſe. Nicht fuͤr die reine Anſchauung, die entweder ein Trug iſt, weil kein Menſch das Jnnere der Sachen ſiehet oder die wenigſtens, da ſie keine Merkmale und Worte zulaͤßt, ganz unmittheilbar bleibet. Kaum vermag der Anſchauende den andern auf den Weg zu fuͤhren, auf dem Er zu ſeinen un- nennbaren Schaͤtzen gelangte und muß es ihm ſelbſt und ſei- nem Genius uͤberlaſſen, wiefern auch Er dieſer Anſchauun- gen theilhaftig werde. Nothwendig wird hiemit eine Pforte zu tauſend vergeblichen Quaalen des Geiſtes und zu unzaͤhli- chen Arten des liſtigen Betruges eroͤfnet, wie die Geſchichte aller Voͤlker zeiget. Zur Speculation kann der Menſch eben ſo wenig geſchaffen ſeyn, da ſie ihrer Geneſis und Mitthei- lung nach nicht vollkommener iſt und nur zu bald die Koͤpfe der Nachbeter mit tauben Worten erfuͤllet. Ja wenn ſich dieſe beide Extreme, Spekulation und Anſchauung gar geſellen wol- len, und der metaphyſiſche Schwaͤrmer auf eine Wortloſe Vernunft voll Anſchauungen weiſet: armes Menſchenge- ſchlecht, ſo ſchwebſt du gar im Raum der Undinge zwiſchen kalter Hitze und warmer Kaͤlte. Durch die Sprache hat uns die Gottheit auf einen ſicherern, den Mittelweg gefuͤhret. Nur Verſtandesideen ſinds, die wir durch ſie erlangen und die zum Genuß der Natur, zu Anwendung unſrer Kraͤfte, zum geſunden Gebrauch unſres Lebens, kurz zu Bildung der Humanitaͤt in uns gnug ſind. Nicht Aether ſollen wir ath- men,

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/244>, abgerufen am 29.04.2024.