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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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men, dazu auch unsre Maschine nicht gemacht ist, sondern
den gesunden Duft der Erde.

Und o sollten die Menschen im Gebiet wahrer und nutz-
barer Begriffe so weit von einander entfernt seyn, als es die
stolze Speculation wähnet? Die Geschichte der Nationen so-
wohl, als die Natur der Vernunft und Sprache verbie-
tet mir fast, dies zu glauben. Der arme Wilde, der wenige Dinge
sah und noch weniger Begriffe zusammenfügte, verfuhr in ih-
rer Verbindung nicht anders als der Erste der Philosophen.
Er hat Sprache wie sie und durch diese seinen Verstand und
sein Gedächtniß, seine Phantasie und Zurückerinnerung tau-
sendfach geübet. Ob in einem kleinern oder größern Kreise?
dieses thut nichts zur Sache; zu der menschlichen Art nämlich,
wie er sie übte. Der Weltweise Europens kann keine einzige
Seelenkraft nennen, die ihm eigen sei; ja selbst im Verhält-
niß der Kräfte und ihrer Uebung erstattet die Natur reichlich.
Bei manchen Wilden z. B. ist das Gedächtniß, die Einbil-
dungskraft, praktische Klugheit, schneller Entschluß, richtiges
Urtheil, lebhafter Ausdruck in einer Blüthe, die bei der künst-
lichen Vernunft Europäischer Gelehrten selten gedeihet. Diese
hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern, freilich un-
endlich feine und künstliche Combinationen, an die der Natur-
mensch nicht denket; eine sitzende Rechenmaschine aber, wäre

sie
Jdeen, II. Th. G g

men, dazu auch unſre Maſchine nicht gemacht iſt, ſondern
den geſunden Duft der Erde.

Und o ſollten die Menſchen im Gebiet wahrer und nutz-
barer Begriffe ſo weit von einander entfernt ſeyn, als es die
ſtolze Speculation waͤhnet? Die Geſchichte der Nationen ſo-
wohl, als die Natur der Vernunft und Sprache verbie-
tet mir faſt, dies zu glauben. Der arme Wilde, der wenige Dinge
ſah und noch weniger Begriffe zuſammenfuͤgte, verfuhr in ih-
rer Verbindung nicht anders als der Erſte der Philoſophen.
Er hat Sprache wie ſie und durch dieſe ſeinen Verſtand und
ſein Gedaͤchtniß, ſeine Phantaſie und Zuruͤckerinnerung tau-
ſendfach geuͤbet. Ob in einem kleinern oder groͤßern Kreiſe?
dieſes thut nichts zur Sache; zu der menſchlichen Art naͤmlich,
wie er ſie uͤbte. Der Weltweiſe Europens kann keine einzige
Seelenkraft nennen, die ihm eigen ſei; ja ſelbſt im Verhaͤlt-
niß der Kraͤfte und ihrer Uebung erſtattet die Natur reichlich.
Bei manchen Wilden z. B. iſt das Gedaͤchtniß, die Einbil-
dungskraft, praktiſche Klugheit, ſchneller Entſchluß, richtiges
Urtheil, lebhafter Ausdruck in einer Bluͤthe, die bei der kuͤnſt-
lichen Vernunft Europaͤiſcher Gelehrten ſelten gedeihet. Dieſe
hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern, freilich un-
endlich feine und kuͤnſtliche Combinationen, an die der Natur-
menſch nicht denket; eine ſitzende Rechenmaſchine aber, waͤre

ſie
Jdeen, II. Th. G g
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[233/0245] men, dazu auch unſre Maſchine nicht gemacht iſt, ſondern den geſunden Duft der Erde. Und o ſollten die Menſchen im Gebiet wahrer und nutz- barer Begriffe ſo weit von einander entfernt ſeyn, als es die ſtolze Speculation waͤhnet? Die Geſchichte der Nationen ſo- wohl, als die Natur der Vernunft und Sprache verbie- tet mir faſt, dies zu glauben. Der arme Wilde, der wenige Dinge ſah und noch weniger Begriffe zuſammenfuͤgte, verfuhr in ih- rer Verbindung nicht anders als der Erſte der Philoſophen. Er hat Sprache wie ſie und durch dieſe ſeinen Verſtand und ſein Gedaͤchtniß, ſeine Phantaſie und Zuruͤckerinnerung tau- ſendfach geuͤbet. Ob in einem kleinern oder groͤßern Kreiſe? dieſes thut nichts zur Sache; zu der menſchlichen Art naͤmlich, wie er ſie uͤbte. Der Weltweiſe Europens kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen ſei; ja ſelbſt im Verhaͤlt- niß der Kraͤfte und ihrer Uebung erſtattet die Natur reichlich. Bei manchen Wilden z. B. iſt das Gedaͤchtniß, die Einbil- dungskraft, praktiſche Klugheit, ſchneller Entſchluß, richtiges Urtheil, lebhafter Ausdruck in einer Bluͤthe, die bei der kuͤnſt- lichen Vernunft Europaͤiſcher Gelehrten ſelten gedeihet. Dieſe hingegen rechnen mit Wortbegriffen und Ziffern, freilich un- endlich feine und kuͤnſtliche Combinationen, an die der Natur- menſch nicht denket; eine ſitzende Rechenmaſchine aber, waͤre ſie Jdeen, II. Th. G g

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/245>, abgerufen am 29.04.2024.