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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung
der Sprachen
: denn in jede derselben ist der Verstand eines
Volks und sein Charakter gepräget. Nicht nur die Sprach-
werkzeuge ändern sich mit den Regionen und beinah jeder Na-
tion sind einige Buchstaben und Laute eigen; sondern die Na-
mengebung selbst, sogar in Bezeichnung hörbarer Sachen, ja
in den unmittelbaren Aeußerungen des Affekts, den Jnter-
jectionen ändert sich überall auf der Erde. Bei Dingen des
Anschauens und der kalten Betrachtung wächst diese Verschie-
denheit noch mehr und bei den uneigentlichen Ausdrücken, den
Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Ver-
hältniß, der Ordnung, dem Consensus der Glieder zu einan-
der ist sie beinah unermäßlich; noch immer aber also daß sich
der Genius eines Volks nirgend besser als in der Physiogno-
mie seiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine Nation viele Na-
men oder viel Handlung hat? wie es Personen und Zeiten
ausdrückt? welche Ordnung der Begriffe es liebet? alle dies
ist oft in feinen Zügen äußerst charakteristisch. Manche Na-
tion hat für das männliche und weibliche Geschlecht eine eigne
Sprache; bei andern unterscheiden sich im bloßen Wort Jch
gar die Stände. Thätige Völker haben einen Ueberfluß von
modis der Verben; feinere Nationen eine Menge Beschaffen-
heiten der Dinge, die sie zu Abstractionen erhöhten. Der son-
derbarste Theil der menschlichen Sprachen endlich ist die Be-

zeich-

und Herzens waͤre alſo eine philoſophiſche Vergleichung
der Sprachen
: denn in jede derſelben iſt der Verſtand eines
Volks und ſein Charakter gepraͤget. Nicht nur die Sprach-
werkzeuge aͤndern ſich mit den Regionen und beinah jeder Na-
tion ſind einige Buchſtaben und Laute eigen; ſondern die Na-
mengebung ſelbſt, ſogar in Bezeichnung hoͤrbarer Sachen, ja
in den unmittelbaren Aeußerungen des Affekts, den Jnter-
jectionen aͤndert ſich uͤberall auf der Erde. Bei Dingen des
Anſchauens und der kalten Betrachtung waͤchſt dieſe Verſchie-
denheit noch mehr und bei den uneigentlichen Ausdruͤcken, den
Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Ver-
haͤltniß, der Ordnung, dem Conſenſus der Glieder zu einan-
der iſt ſie beinah unermaͤßlich; noch immer aber alſo daß ſich
der Genius eines Volks nirgend beſſer als in der Phyſiogno-
mie ſeiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine Nation viele Na-
men oder viel Handlung hat? wie es Perſonen und Zeiten
ausdruͤckt? welche Ordnung der Begriffe es liebet? alle dies
iſt oft in feinen Zuͤgen aͤußerſt charakteriſtiſch. Manche Na-
tion hat fuͤr das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht eine eigne
Sprache; bei andern unterſcheiden ſich im bloßen Wort Jch
gar die Staͤnde. Thaͤtige Voͤlker haben einen Ueberfluß von
modis der Verben; feinere Nationen eine Menge Beſchaffen-
heiten der Dinge, die ſie zu Abſtractionen erhoͤhten. Der ſon-
derbarſte Theil der menſchlichen Sprachen endlich iſt die Be-

zeich-
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[236/0248] und Herzens waͤre alſo eine philoſophiſche Vergleichung der Sprachen: denn in jede derſelben iſt der Verſtand eines Volks und ſein Charakter gepraͤget. Nicht nur die Sprach- werkzeuge aͤndern ſich mit den Regionen und beinah jeder Na- tion ſind einige Buchſtaben und Laute eigen; ſondern die Na- mengebung ſelbſt, ſogar in Bezeichnung hoͤrbarer Sachen, ja in den unmittelbaren Aeußerungen des Affekts, den Jnter- jectionen aͤndert ſich uͤberall auf der Erde. Bei Dingen des Anſchauens und der kalten Betrachtung waͤchſt dieſe Verſchie- denheit noch mehr und bei den uneigentlichen Ausdruͤcken, den Bildern der Rede, endlich beim Bau der Sprache, beim Ver- haͤltniß, der Ordnung, dem Conſenſus der Glieder zu einan- der iſt ſie beinah unermaͤßlich; noch immer aber alſo daß ſich der Genius eines Volks nirgend beſſer als in der Phyſiogno- mie ſeiner Rede offenbaret. Ob z. B. eine Nation viele Na- men oder viel Handlung hat? wie es Perſonen und Zeiten ausdruͤckt? welche Ordnung der Begriffe es liebet? alle dies iſt oft in feinen Zuͤgen aͤußerſt charakteriſtiſch. Manche Na- tion hat fuͤr das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht eine eigne Sprache; bei andern unterſcheiden ſich im bloßen Wort Jch gar die Staͤnde. Thaͤtige Voͤlker haben einen Ueberfluß von modis der Verben; feinere Nationen eine Menge Beſchaffen- heiten der Dinge, die ſie zu Abſtractionen erhoͤhten. Der ſon- derbarſte Theil der menſchlichen Sprachen endlich iſt die Be- zeich-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/248>, abgerufen am 29.04.2024.