Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

ist sodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn
sie sollte den Beobachter nur aufmerksam machen und ihn zum
eignen, thätigen Gebrauch seiner Seelenkräfte leiten. Ein
feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenstral könnte
theils nicht allgemein seyn, theils wäre es für die jetzige Sphäre
unsrer gröbern Thätigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches ists
mit der Sprache des Herzens: sie kann wenig sagen und doch
sagt sie gnug; ja gewissermaasse ist unsre menschliche Sprache
mehr für das Herz, als für die Vernunft geschaffen. Dem
Verstande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache selbst
zu Hülfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber
bleiben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische Strom
sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinüber
brächte. Auch darum also hat der Schöpfer die Musik der
Töne zum Organ unsrer Bildung gewählt; eine Sprache für
die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun-
dessprache. Geschöpfe, die sich einander noch nicht innig be-
rühren können, stehn wie hinter Gegittern und flüstern ein-
ander zu das Wort der Liebe; bei Wesen, die die Sprache des
Lichts oder eines andern Organs sprächen, veränderte sich noth-
wendig die ganze Gestalt und Kette ihrer Bildung.

Zweitens. Der schönste Versuch über die Geschichte
und mannichfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes

und
G g 2

iſt ſodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn
ſie ſollte den Beobachter nur aufmerkſam machen und ihn zum
eignen, thaͤtigen Gebrauch ſeiner Seelenkraͤfte leiten. Ein
feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenſtral koͤnnte
theils nicht allgemein ſeyn, theils waͤre es fuͤr die jetzige Sphaͤre
unſrer groͤbern Thaͤtigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches iſts
mit der Sprache des Herzens: ſie kann wenig ſagen und doch
ſagt ſie gnug; ja gewiſſermaaſſe iſt unſre menſchliche Sprache
mehr fuͤr das Herz, als fuͤr die Vernunft geſchaffen. Dem
Verſtande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache ſelbſt
zu Huͤlfe kommen; die Empfindungen unſeres Herzens aber
bleiben in unſerer Bruſt vergraben, wenn der melodiſche Strom
ſie nicht in ſanften Wellen zum Herzen des andern hinuͤber
braͤchte. Auch darum alſo hat der Schoͤpfer die Muſik der
Toͤne zum Organ unſrer Bildung gewaͤhlt; eine Sprache fuͤr
die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun-
desſprache. Geſchoͤpfe, die ſich einander noch nicht innig be-
ruͤhren koͤnnen, ſtehn wie hinter Gegittern und fluͤſtern ein-
ander zu das Wort der Liebe; bei Weſen, die die Sprache des
Lichts oder eines andern Organs ſpraͤchen, veraͤnderte ſich noth-
wendig die ganze Geſtalt und Kette ihrer Bildung.

Zweitens. Der ſchoͤnſte Verſuch uͤber die Geſchichte
und mannichfaltige Charakteriſtik des menſchlichen Verſtandes

und
G g 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0247" n="235"/>
i&#x017F;t &#x017F;odann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ollte den Beobachter nur aufmerk&#x017F;am machen und ihn zum<lb/>
eignen, tha&#x0364;tigen Gebrauch &#x017F;einer Seelenkra&#x0364;fte leiten. Ein<lb/>
feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnen&#x017F;tral ko&#x0364;nnte<lb/>
theils nicht allgemein &#x017F;eyn, theils wa&#x0364;re es fu&#x0364;r die jetzige Spha&#x0364;re<lb/>
un&#x017F;rer gro&#x0364;bern Tha&#x0364;tigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches i&#x017F;ts<lb/>
mit der Sprache des Herzens: &#x017F;ie kann wenig &#x017F;agen und doch<lb/>
&#x017F;agt &#x017F;ie gnug; ja gewi&#x017F;&#x017F;ermaa&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t un&#x017F;re men&#x017F;chliche Sprache<lb/>
mehr fu&#x0364;r das Herz, als fu&#x0364;r die Vernunft ge&#x017F;chaffen. Dem<lb/>
Ver&#x017F;tande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zu Hu&#x0364;lfe kommen; die Empfindungen un&#x017F;eres Herzens aber<lb/>
bleiben in un&#x017F;erer Bru&#x017F;t vergraben, wenn der melodi&#x017F;che Strom<lb/>
&#x017F;ie nicht in &#x017F;anften Wellen zum Herzen des andern hinu&#x0364;ber<lb/>
bra&#x0364;chte. Auch darum al&#x017F;o hat der Scho&#x0364;pfer die Mu&#x017F;ik der<lb/>
To&#x0364;ne zum Organ un&#x017F;rer Bildung gewa&#x0364;hlt; eine Sprache fu&#x0364;r<lb/>
die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun-<lb/>
des&#x017F;prache. Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe, die &#x017F;ich einander noch nicht innig be-<lb/>
ru&#x0364;hren ko&#x0364;nnen, &#x017F;tehn wie hinter Gegittern und flu&#x0364;&#x017F;tern ein-<lb/>
ander zu das Wort der Liebe; bei We&#x017F;en, die die Sprache des<lb/>
Lichts oder eines andern Organs &#x017F;pra&#x0364;chen, vera&#x0364;nderte &#x017F;ich noth-<lb/>
wendig die ganze Ge&#x017F;talt und Kette ihrer Bildung.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Zweitens.</hi> Der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te Ver&#x017F;uch u&#x0364;ber die Ge&#x017F;chichte<lb/>
und mannichfaltige Charakteri&#x017F;tik des men&#x017F;chlichen Ver&#x017F;tandes<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g 2</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0247] iſt ſodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn ſie ſollte den Beobachter nur aufmerkſam machen und ihn zum eignen, thaͤtigen Gebrauch ſeiner Seelenkraͤfte leiten. Ein feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenſtral koͤnnte theils nicht allgemein ſeyn, theils waͤre es fuͤr die jetzige Sphaͤre unſrer groͤbern Thaͤtigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches iſts mit der Sprache des Herzens: ſie kann wenig ſagen und doch ſagt ſie gnug; ja gewiſſermaaſſe iſt unſre menſchliche Sprache mehr fuͤr das Herz, als fuͤr die Vernunft geſchaffen. Dem Verſtande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache ſelbſt zu Huͤlfe kommen; die Empfindungen unſeres Herzens aber bleiben in unſerer Bruſt vergraben, wenn der melodiſche Strom ſie nicht in ſanften Wellen zum Herzen des andern hinuͤber braͤchte. Auch darum alſo hat der Schoͤpfer die Muſik der Toͤne zum Organ unſrer Bildung gewaͤhlt; eine Sprache fuͤr die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun- desſprache. Geſchoͤpfe, die ſich einander noch nicht innig be- ruͤhren koͤnnen, ſtehn wie hinter Gegittern und fluͤſtern ein- ander zu das Wort der Liebe; bei Weſen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs ſpraͤchen, veraͤnderte ſich noth- wendig die ganze Geſtalt und Kette ihrer Bildung. Zweitens. Der ſchoͤnſte Verſuch uͤber die Geſchichte und mannichfaltige Charakteriſtik des menſchlichen Verſtandes und G g 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/247
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/247>, abgerufen am 29.04.2024.