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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796.

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zu amusiren. Ein echter Jünger jener alten
gaya ciencia, ob er uns nach Delphi
oder Tarent, nach Sicilien oder Sa-
lerno, ins Faß des Diogenes oder an
die Tafelrunde, nach Bagdad oder
ins Feenland geleite. Der Geist der So-
kratischen Schule verließ ihn selten: denn
seine oft mißverstandene Philosophie ist am
Ende doch Weisheit des Lebens.

Warum ist Geßner von allen Natio-
nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe
empfangen worden? Er ist bei der feinsten
Kunst Einfalt, Natur und Wahr-
heit. In Darstellung einer reinen Huma-
nität sollte ihn selbst das Sylbenmaas
nicht binden; wie auf einem Faden, der
in der Luft schwebt, läßet er sich in seiner
poetischen Prose oder prosaischen Poesie
jetzt auf blühende Fluren hinab, jetzt schwin-
get er sich in die goldnen Wolken der

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zu amuſiren. Ein echter Juͤnger jener alten
gaya ciencia, ob er uns nach Delphi
oder Tarent, nach Sicilien oder Sa-
lerno, ins Faß des Diogenes oder an
die Tafelrunde, nach Bagdad oder
ins Feenland geleite. Der Geiſt der So-
kratiſchen Schule verließ ihn ſelten: denn
ſeine oft mißverſtandene Philoſophie iſt am
Ende doch Weisheit des Lebens.

Warum iſt Geßner von allen Natio-
nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe
empfangen worden? Er iſt bei der feinſten
Kunſt Einfalt, Natur und Wahr-
heit. In Darſtellung einer reinen Huma-
nitaͤt ſollte ihn ſelbſt das Sylbenmaas
nicht binden; wie auf einem Faden, der
in der Luft ſchwebt, laͤßet er ſich in ſeiner
poëtiſchen Proſe oder proſaiſchen Poeſie
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[131/0150] zu amuſiren. Ein echter Juͤnger jener alten gaya ciencia, ob er uns nach Delphi oder Tarent, nach Sicilien oder Sa- lerno, ins Faß des Diogenes oder an die Tafelrunde, nach Bagdad oder ins Feenland geleite. Der Geiſt der So- kratiſchen Schule verließ ihn ſelten: denn ſeine oft mißverſtandene Philoſophie iſt am Ende doch Weisheit des Lebens. Warum iſt Geßner von allen Natio- nen, die ihn kennen lernten, mit Liebe empfangen worden? Er iſt bei der feinſten Kunſt Einfalt, Natur und Wahr- heit. In Darſtellung einer reinen Huma- nitaͤt ſollte ihn ſelbſt das Sylbenmaas nicht binden; wie auf einem Faden, der in der Luft ſchwebt, laͤßet er ſich in ſeiner poëtiſchen Proſe oder proſaiſchen Poeſie jetzt auf bluͤhende Fluren hinab, jetzt ſchwin- get er ſich in die goldnen Wolken der I 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 8. Riga, 1796, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet08_1796/150>, abgerufen am 29.04.2024.