Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

phen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch
nur nach diesem Puncte genauer, und siehe
etwas weniger auf das, was unsre neuen
Theologen verwerfen, als auf das, was sie
dafür in die Stelle setzen wollen. Ich möch-
te nicht mit Dir sagen, daß unser altes Re-
ligionssystem ein Flickwerk von Stümpern
und Halbphilosophen sei; ich weiß kein Ding
in der Welt, an welchem sich der menschliche
Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte, als
an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halb-
philosophen ist das Religionssystem, welches
man jetzt an die Stelle des alten setzen
will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver-
nunft und Philosophie, als sich das alte an-
maaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß
ich dies alte vertheidige? Meines Nachbars
Haus drohet ihm den Einsturz. Wenn es
mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm
redlich helfen. Aber er will es nicht abtra-
gen, sondern er will es, mit gänzlichem Ruin
meines Hauses stützen und unterbauen. Das

phen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch
nur nach dieſem Puncte genauer, und ſiehe
etwas weniger auf das, was unſre neuen
Theologen verwerfen, als auf das, was ſie
dafuͤr in die Stelle ſetzen wollen. Ich moͤch-
te nicht mit Dir ſagen, daß unſer altes Re-
ligionsſyſtem ein Flickwerk von Stuͤmpern
und Halbphiloſophen ſei; ich weiß kein Ding
in der Welt, an welchem ſich der menſchliche
Scharfſinn mehr gezeigt und geuͤbt haͤtte, als
an ihm. Flickwerk von Stuͤmpern und Halb-
philoſophen iſt das Religionsſyſtem, welches
man jetzt an die Stelle des alten ſetzen
will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver-
nunft und Philoſophie, als ſich das alte an-
maaßt. Und doch verdenkſt Du es mir, daß
ich dies alte vertheidige? Meines Nachbars
Haus drohet ihm den Einſturz. Wenn es
mein Nachbar abtragen will, ſo will ich ihm
redlich helfen. Aber er will es nicht abtra-
gen, ſondern er will es, mit gaͤnzlichem Ruin
meines Hauſes ſtuͤtzen und unterbauen. Das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="137"/>
phen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch<lb/>
nur nach die&#x017F;em Puncte genauer, und &#x017F;iehe<lb/>
etwas weniger auf das, was un&#x017F;re neuen<lb/>
Theologen verwerfen, als auf das, was &#x017F;ie<lb/>
dafu&#x0364;r in die Stelle &#x017F;etzen wollen. Ich mo&#x0364;ch-<lb/>
te nicht mit Dir &#x017F;agen, daß un&#x017F;er altes Re-<lb/>
ligions&#x017F;y&#x017F;tem ein Flickwerk von Stu&#x0364;mpern<lb/>
und Halbphilo&#x017F;ophen &#x017F;ei; ich weiß kein Ding<lb/>
in der Welt, an welchem &#x017F;ich der men&#x017F;chliche<lb/>
Scharf&#x017F;inn mehr gezeigt und geu&#x0364;bt ha&#x0364;tte, als<lb/>
an ihm. Flickwerk von Stu&#x0364;mpern und Halb-<lb/>
philo&#x017F;ophen i&#x017F;t das Religions&#x017F;y&#x017F;tem, welches<lb/>
man jetzt an die Stelle des alten &#x017F;etzen<lb/>
will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver-<lb/>
nunft und Philo&#x017F;ophie, als &#x017F;ich das alte an-<lb/>
maaßt. Und doch verdenk&#x017F;t Du es mir, daß<lb/>
ich dies alte vertheidige? Meines Nachbars<lb/>
Haus drohet ihm den Ein&#x017F;turz. Wenn es<lb/>
mein Nachbar abtragen will, &#x017F;o will ich ihm<lb/>
redlich helfen. Aber er will es nicht abtra-<lb/>
gen, &#x017F;ondern er will es, mit ga&#x0364;nzlichem Ruin<lb/>
meines Hau&#x017F;es &#x017F;tu&#x0364;tzen und unterbauen. Das<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0144] phen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch nur nach dieſem Puncte genauer, und ſiehe etwas weniger auf das, was unſre neuen Theologen verwerfen, als auf das, was ſie dafuͤr in die Stelle ſetzen wollen. Ich moͤch- te nicht mit Dir ſagen, daß unſer altes Re- ligionsſyſtem ein Flickwerk von Stuͤmpern und Halbphiloſophen ſei; ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem ſich der menſchliche Scharfſinn mehr gezeigt und geuͤbt haͤtte, als an ihm. Flickwerk von Stuͤmpern und Halb- philoſophen iſt das Religionsſyſtem, welches man jetzt an die Stelle des alten ſetzen will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver- nunft und Philoſophie, als ſich das alte an- maaßt. Und doch verdenkſt Du es mir, daß ich dies alte vertheidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm den Einſturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, ſo will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtra- gen, ſondern er will es, mit gaͤnzlichem Ruin meines Hauſes ſtuͤtzen und unterbauen. Das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/144
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/144>, abgerufen am 02.05.2024.