Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797.

Bild:
<< vorherige Seite

"Verhehlen kann man sichs also auch nicht,
daß der Fortgang beider Nationen, der Eng-
lischen und Deutschen, sich wie ihr verschiede-
nes Betragen verhalte. Hier entscheidet die
That; ich will und kann nicht entscheiden.
Daß die Englische Literatur die Deutsche an
Verdienst übertreffe, erweiset sich augenschein-
lich dadurch, daß man in Deutschland, wie in
ganz Europa, Englische Werke sucht und lie-
set, da hingegen England sowohl als ganz
Europa um Deutsche Werke sehr unbeküm-
mert ist. Gegen diesen Beweis läßt sich nichts
einwenden; die Deutsche Nation giebt hier
ihre Stimme wider sich selbst. -- Uebrigens
bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwi-
schen den Nationen wesentliche Verschieden-
heit, unabhängig von ihrer Geistescultur gebe.
Der Deutsche wird Delicatesse zeigen, wie
der Franzose, Tiefsinn und Erhabenheit wie
der Engländer, wenn er auf dem rechten
Wege seyn wird; er ist aber noch nicht dar-
auf. Und die Ursache davon liegt, wie ich

„Verhehlen kann man ſichs alſo auch nicht,
daß der Fortgang beider Nationen, der Eng-
liſchen und Deutſchen, ſich wie ihr verſchiede-
nes Betragen verhalte. Hier entſcheidet die
That; ich will und kann nicht entſcheiden.
Daß die Engliſche Literatur die Deutſche an
Verdienſt uͤbertreffe, erweiſet ſich augenſchein-
lich dadurch, daß man in Deutſchland, wie in
ganz Europa, Engliſche Werke ſucht und lie-
ſet, da hingegen England ſowohl als ganz
Europa um Deutſche Werke ſehr unbekuͤm-
mert iſt. Gegen dieſen Beweis laͤßt ſich nichts
einwenden; die Deutſche Nation giebt hier
ihre Stimme wider ſich ſelbſt. — Uebrigens
bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwi-
ſchen den Nationen weſentliche Verſchieden-
heit, unabhaͤngig von ihrer Geiſtescultur gebe.
Der Deutſche wird Delicateſſe zeigen, wie
der Franzoſe, Tiefſinn und Erhabenheit wie
der Englaͤnder, wenn er auf dem rechten
Wege ſeyn wird; er iſt aber noch nicht dar-
auf. Und die Urſache davon liegt, wie ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0046" n="39"/>
          <p>&#x201E;Verhehlen kann man &#x017F;ichs al&#x017F;o auch nicht,<lb/>
daß der Fortgang beider Nationen, der Eng-<lb/>
li&#x017F;chen und Deut&#x017F;chen, &#x017F;ich wie ihr ver&#x017F;chiede-<lb/>
nes Betragen verhalte. Hier ent&#x017F;cheidet die<lb/>
That; ich will und kann nicht ent&#x017F;cheiden.<lb/>
Daß die Engli&#x017F;che Literatur die Deut&#x017F;che an<lb/>
Verdien&#x017F;t u&#x0364;bertreffe, erwei&#x017F;et &#x017F;ich augen&#x017F;chein-<lb/>
lich dadurch, daß man in Deut&#x017F;chland, wie in<lb/>
ganz Europa, Engli&#x017F;che Werke &#x017F;ucht und lie-<lb/>
&#x017F;et, da hingegen England &#x017F;owohl als ganz<lb/>
Europa um Deut&#x017F;che Werke &#x017F;ehr unbeku&#x0364;m-<lb/>
mert i&#x017F;t. Gegen die&#x017F;en Beweis la&#x0364;ßt &#x017F;ich nichts<lb/>
einwenden; die Deut&#x017F;che Nation giebt hier<lb/>
ihre Stimme wider &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. &#x2014; Uebrigens<lb/>
bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwi-<lb/>
&#x017F;chen den Nationen we&#x017F;entliche Ver&#x017F;chieden-<lb/>
heit, unabha&#x0364;ngig von ihrer Gei&#x017F;tescultur gebe.<lb/>
Der Deut&#x017F;che wird Delicate&#x017F;&#x017F;e zeigen, wie<lb/>
der Franzo&#x017F;e, Tief&#x017F;inn und Erhabenheit wie<lb/>
der Engla&#x0364;nder, wenn er auf dem rechten<lb/>
Wege &#x017F;eyn wird; er i&#x017F;t aber noch nicht dar-<lb/>
auf. Und die Ur&#x017F;ache davon liegt, wie ich<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[39/0046] „Verhehlen kann man ſichs alſo auch nicht, daß der Fortgang beider Nationen, der Eng- liſchen und Deutſchen, ſich wie ihr verſchiede- nes Betragen verhalte. Hier entſcheidet die That; ich will und kann nicht entſcheiden. Daß die Engliſche Literatur die Deutſche an Verdienſt uͤbertreffe, erweiſet ſich augenſchein- lich dadurch, daß man in Deutſchland, wie in ganz Europa, Engliſche Werke ſucht und lie- ſet, da hingegen England ſowohl als ganz Europa um Deutſche Werke ſehr unbekuͤm- mert iſt. Gegen dieſen Beweis laͤßt ſich nichts einwenden; die Deutſche Nation giebt hier ihre Stimme wider ſich ſelbſt. — Uebrigens bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwi- ſchen den Nationen weſentliche Verſchieden- heit, unabhaͤngig von ihrer Geiſtescultur gebe. Der Deutſche wird Delicateſſe zeigen, wie der Franzoſe, Tiefſinn und Erhabenheit wie der Englaͤnder, wenn er auf dem rechten Wege ſeyn wird; er iſt aber noch nicht dar- auf. Und die Urſache davon liegt, wie ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/46
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 9. Riga, 1797, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet09_1797/46>, abgerufen am 27.04.2024.