die Succession der Worte nicht der Mittelpunkt ih- rer Wirkung.
Um diesen Unterschied deutlicher zu machen: muß eine Vergleichung zwischen zweien durch na- türliche Mittel wirkenden Künsten gemacht werden, zwischen Malerei und Tonkunst. Hier kann ich sa- gen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, so wie Musik durch die Zeitfolge. Was bei jener das Nebeneinanderseyn der Farben und Figuren ist, der Grund der Schönheit, das ist bei dieser das Auf- einanderfolgen der Töne, der Grund des Wohlklan- ges. Wie bei jener auf dem Anblicke des Coexisti- renden das Wohlgefallen, die Wirkung der Kunst beruhet; so ist in dieser das Successive, die Ver- knüpfung und Abwechselung der Töne das Mittel der musikalischen Wirkung. Wie also, kann ich fortfahren, jene, die Malerei, blos durch ein Blend- werk, den Begriff der Zeitfolge in uns erwecken kann: so mache sie dies Nebenwerk nie zu ihrer Hauptsache, nämlich: als Malerei durch Farben, und doch in der Zeitfolge zu wirken: sonst gehet das Wesen und alle Wirkung der Kunst verlohren. Hierüber ist das Farbenklavier Zeuge. Und also im Gegentheile die Musik, die ganz durch Zeitfolge wirkt, mache es nie zum Hauptzwecke, Gegenstände des Raums musikalisch zu schildern, wie unerfahr- ne Stümper thun. Jene verliere sich nie aus dem
Coexi-
N 4
Erſtes Waͤldchen.
die Succeſſion der Worte nicht der Mittelpunkt ih- rer Wirkung.
Um dieſen Unterſchied deutlicher zu machen: muß eine Vergleichung zwiſchen zweien durch na- tuͤrliche Mittel wirkenden Kuͤnſten gemacht werden, zwiſchen Malerei und Tonkunſt. Hier kann ich ſa- gen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, ſo wie Muſik durch die Zeitfolge. Was bei jener das Nebeneinanderſeyn der Farben und Figuren iſt, der Grund der Schoͤnheit, das iſt bei dieſer das Auf- einanderfolgen der Toͤne, der Grund des Wohlklan- ges. Wie bei jener auf dem Anblicke des Coexiſti- renden das Wohlgefallen, die Wirkung der Kunſt beruhet; ſo iſt in dieſer das Succeſſive, die Ver- knuͤpfung und Abwechſelung der Toͤne das Mittel der muſikaliſchen Wirkung. Wie alſo, kann ich fortfahren, jene, die Malerei, blos durch ein Blend- werk, den Begriff der Zeitfolge in uns erwecken kann: ſo mache ſie dies Nebenwerk nie zu ihrer Hauptſache, naͤmlich: als Malerei durch Farben, und doch in der Zeitfolge zu wirken: ſonſt gehet das Weſen und alle Wirkung der Kunſt verlohren. Hieruͤber iſt das Farbenklavier Zeuge. Und alſo im Gegentheile die Muſik, die ganz durch Zeitfolge wirkt, mache es nie zum Hauptzwecke, Gegenſtaͤnde des Raums muſikaliſch zu ſchildern, wie unerfahr- ne Stuͤmper thun. Jene verliere ſich nie aus dem
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Erſtes Waͤldchen.
die Succeſſion der Worte nicht der Mittelpunkt ih-
rer Wirkung.
Um dieſen Unterſchied deutlicher zu machen:
muß eine Vergleichung zwiſchen zweien durch na-
tuͤrliche Mittel wirkenden Kuͤnſten gemacht werden,
zwiſchen Malerei und Tonkunſt. Hier kann ich ſa-
gen: Malerei wirkt ganz durch den Raum, ſo wie
Muſik durch die Zeitfolge. Was bei jener das
Nebeneinanderſeyn der Farben und Figuren iſt, der
Grund der Schoͤnheit, das iſt bei dieſer das Auf-
einanderfolgen der Toͤne, der Grund des Wohlklan-
ges. Wie bei jener auf dem Anblicke des Coexiſti-
renden das Wohlgefallen, die Wirkung der Kunſt
beruhet; ſo iſt in dieſer das Succeſſive, die Ver-
knuͤpfung und Abwechſelung der Toͤne das Mittel
der muſikaliſchen Wirkung. Wie alſo, kann ich
fortfahren, jene, die Malerei, blos durch ein Blend-
werk, den Begriff der Zeitfolge in uns erwecken
kann: ſo mache ſie dies Nebenwerk nie zu ihrer
Hauptſache, naͤmlich: als Malerei durch Farben,
und doch in der Zeitfolge zu wirken: ſonſt gehet
das Weſen und alle Wirkung der Kunſt verlohren.
Hieruͤber iſt das Farbenklavier Zeuge. Und alſo
im Gegentheile die Muſik, die ganz durch Zeitfolge
wirkt, mache es nie zum Hauptzwecke, Gegenſtaͤnde
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/205>, abgerufen am 17.06.2024.
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