Coexistenten, diese nie aus der Succession: denn bei- de sind die natürlichen Mittel ihrer Wirkung.
Bei der Poesie aber ist der Auftritt geändert. Hier ist das Natürliche in den Zeichen, z. E. Buch- staben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poesie wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine will- kührliche Uebereinstimmung in den Worten liegt, die Seele, die den artikulirten Tönen einwohnet, ist alles. Die Succession der Töne kann der Poesie nicht so wesentlich berechnet werden, als der Male- rei das Coexistiren der Farben; "denn die Zeichen "haben gar nicht einerlei Verhältniß zu der bezeich- "neten Sache a)."
Der Grund ist wankend: wie wird das Gebäu- de seyn? Ehe wir dieses sehen, lasset uns jenen erst auf andre Art sichern. Malerei wirkt im Rau- me, und durch eine künstliche Vorstellung des Raums. Musik, und alle energische Künste wir- ken nicht blos in, sondern auch durch die Zeitfolge durch einen künstlichen Zeitwechsel der Töne. Lie- ße sich nicht das Wesen der Poesie auch auf einen solchen Hauptbegriff bringen, da sie durch willkühr- liche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieser Wir- kung Kraft nennen: und so, wie in der Metaphy- sik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe sind, wie die mathematischen Wissenschaften sich alle
auf
a) Laok. p. 153.
Kritiſche Waͤlder.
Coexiſtenten, dieſe nie aus der Succeſſion: denn bei- de ſind die natuͤrlichen Mittel ihrer Wirkung.
Bei der Poeſie aber iſt der Auftritt geaͤndert. Hier iſt das Natuͤrliche in den Zeichen, z. E. Buch- ſtaben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poeſie wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine will- kuͤhrliche Uebereinſtimmung in den Worten liegt, die Seele, die den artikulirten Toͤnen einwohnet, iſt alles. Die Succeſſion der Toͤne kann der Poeſie nicht ſo weſentlich berechnet werden, als der Male- rei das Coexiſtiren der Farben; „denn die Zeichen „haben gar nicht einerlei Verhaͤltniß zu der bezeich- „neten Sache a).„
Der Grund iſt wankend: wie wird das Gebaͤu- de ſeyn? Ehe wir dieſes ſehen, laſſet uns jenen erſt auf andre Art ſichern. Malerei wirkt im Rau- me, und durch eine kuͤnſtliche Vorſtellung des Raums. Muſik, und alle energiſche Kuͤnſte wir- ken nicht blos in, ſondern auch durch die Zeitfolge durch einen kuͤnſtlichen Zeitwechſel der Toͤne. Lie- ße ſich nicht das Weſen der Poeſie auch auf einen ſolchen Hauptbegriff bringen, da ſie durch willkuͤhr- liche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieſer Wir- kung Kraft nennen: und ſo, wie in der Metaphy- ſik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe ſind, wie die mathematiſchen Wiſſenſchaften ſich alle
auf
a) Laok. p. 153.
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Kritiſche Waͤlder.
Coexiſtenten, dieſe nie aus der Succeſſion: denn bei-
de ſind die natuͤrlichen Mittel ihrer Wirkung.
Bei der Poeſie aber iſt der Auftritt geaͤndert.
Hier iſt das Natuͤrliche in den Zeichen, z. E. Buch-
ſtaben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poeſie
wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine will-
kuͤhrliche Uebereinſtimmung in den Worten liegt,
die Seele, die den artikulirten Toͤnen einwohnet, iſt
alles. Die Succeſſion der Toͤne kann der Poeſie
nicht ſo weſentlich berechnet werden, als der Male-
rei das Coexiſtiren der Farben; „denn die Zeichen
„haben gar nicht einerlei Verhaͤltniß zu der bezeich-
„neten Sache a).„
Der Grund iſt wankend: wie wird das Gebaͤu-
de ſeyn? Ehe wir dieſes ſehen, laſſet uns jenen erſt
auf andre Art ſichern. Malerei wirkt im Rau-
me, und durch eine kuͤnſtliche Vorſtellung des
Raums. Muſik, und alle energiſche Kuͤnſte wir-
ken nicht blos in, ſondern auch durch die Zeitfolge
durch einen kuͤnſtlichen Zeitwechſel der Toͤne. Lie-
ße ſich nicht das Weſen der Poeſie auch auf einen
ſolchen Hauptbegriff bringen, da ſie durch willkuͤhr-
liche Zeichen, durch den Sinn der Worte auf die
Seele wirkt? Wir wollen das Mittel dieſer Wir-
kung Kraft nennen: und ſo, wie in der Metaphy-
ſik Raum, Zeit und Kraft drei Grundbegriffe
ſind, wie die mathematiſchen Wiſſenſchaften ſich alle
auf
a) Laok. p. 153.
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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/206>, abgerufen am 17.06.2024.
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