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Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.

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Drittes Wäldchen.

Die vortreflichste Bildersprache war ihr. Sie,
die im Plane des Schicksals der Völker zunächst
hinter die Egypter trafen, und Cultur, Kunst und
Weisheit, ja wenn man will, auch politische Glück-
seligkeit aus den Händen dieses Reichs, wie einer
ablebenden Matrone, empfangen, sie, die den über
Völker und Zeiten fortgehenden Faden der Cultur
des menschlichen Geschlechts da auffassen sollten,
wo er zunächst aus ägyptischen Händen kam: sie
erbten von diesen Allegoristen auch die reichste, die
bedeutendste Bildersprache, die auf der Welt ge-
wesen. Aus den Händen einer Nation, die überall
Bedeutung suchte, und Bedeutung gnug in ihn
gelegt hatte, kam also ein Bilderschatz in die
Hände einer Erbinn, die für ihr Theil nichts als
Schönheit sehen und denken wollte. Reich, Be-
deutungsvoll, schön,
was kann man von einer
Bildersprache mehr sagen?

So manche gelehrte Werke wir über dies alle-
gorische Alterthum haben: so fehlt uns eine wahre
Geschichte der Allegorie noch, die das insonderheit
zeige, wie aus der bedeutungsvollen Bilderlehre
Aegyptens die schöne Jkonologie Griechenlandes
zum Theil geworden? Und die Untersuchung
hierüber ist sie nicht oft der Schlüssel zur Bilder-
gallerie griechischer Dichtkunst, Kunst und Weis-
heit? Die Hieroglyphen der Aegypter, ihre hie-
rographische und kyriologische Bildersprache, behal-

ten,
D 3
Drittes Waͤldchen.

Die vortreflichſte Bilderſprache war ihr. Sie,
die im Plane des Schickſals der Voͤlker zunaͤchſt
hinter die Egypter trafen, und Cultur, Kunſt und
Weisheit, ja wenn man will, auch politiſche Gluͤck-
ſeligkeit aus den Haͤnden dieſes Reichs, wie einer
ablebenden Matrone, empfangen, ſie, die den uͤber
Voͤlker und Zeiten fortgehenden Faden der Cultur
des menſchlichen Geſchlechts da auffaſſen ſollten,
wo er zunaͤchſt aus aͤgyptiſchen Haͤnden kam: ſie
erbten von dieſen Allegoriſten auch die reichſte, die
bedeutendſte Bilderſprache, die auf der Welt ge-
weſen. Aus den Haͤnden einer Nation, die uͤberall
Bedeutung ſuchte, und Bedeutung gnug in ihn
gelegt hatte, kam alſo ein Bilderſchatz in die
Haͤnde einer Erbinn, die fuͤr ihr Theil nichts als
Schoͤnheit ſehen und denken wollte. Reich, Be-
deutungsvoll, ſchoͤn,
was kann man von einer
Bilderſprache mehr ſagen?

So manche gelehrte Werke wir uͤber dies alle-
goriſche Alterthum haben: ſo fehlt uns eine wahre
Geſchichte der Allegorie noch, die das inſonderheit
zeige, wie aus der bedeutungsvollen Bilderlehre
Aegyptens die ſchoͤne Jkonologie Griechenlandes
zum Theil geworden? Und die Unterſuchung
hieruͤber iſt ſie nicht oft der Schluͤſſel zur Bilder-
gallerie griechiſcher Dichtkunſt, Kunſt und Weis-
heit? Die Hieroglyphen der Aegypter, ihre hie-
rographiſche und kyriologiſche Bilderſprache, behal-

ten,
D 3
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[53/0059] Drittes Waͤldchen. Die vortreflichſte Bilderſprache war ihr. Sie, die im Plane des Schickſals der Voͤlker zunaͤchſt hinter die Egypter trafen, und Cultur, Kunſt und Weisheit, ja wenn man will, auch politiſche Gluͤck- ſeligkeit aus den Haͤnden dieſes Reichs, wie einer ablebenden Matrone, empfangen, ſie, die den uͤber Voͤlker und Zeiten fortgehenden Faden der Cultur des menſchlichen Geſchlechts da auffaſſen ſollten, wo er zunaͤchſt aus aͤgyptiſchen Haͤnden kam: ſie erbten von dieſen Allegoriſten auch die reichſte, die bedeutendſte Bilderſprache, die auf der Welt ge- weſen. Aus den Haͤnden einer Nation, die uͤberall Bedeutung ſuchte, und Bedeutung gnug in ihn gelegt hatte, kam alſo ein Bilderſchatz in die Haͤnde einer Erbinn, die fuͤr ihr Theil nichts als Schoͤnheit ſehen und denken wollte. Reich, Be- deutungsvoll, ſchoͤn, was kann man von einer Bilderſprache mehr ſagen? So manche gelehrte Werke wir uͤber dies alle- goriſche Alterthum haben: ſo fehlt uns eine wahre Geſchichte der Allegorie noch, die das inſonderheit zeige, wie aus der bedeutungsvollen Bilderlehre Aegyptens die ſchoͤne Jkonologie Griechenlandes zum Theil geworden? Und die Unterſuchung hieruͤber iſt ſie nicht oft der Schluͤſſel zur Bilder- gallerie griechiſcher Dichtkunſt, Kunſt und Weis- heit? Die Hieroglyphen der Aegypter, ihre hie- rographiſche und kyriologiſche Bilderſprache, behal- ten, D 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische03_1769/59>, abgerufen am 08.05.2024.