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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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"an der Tugend, quae serit arbores, vt al-
"teri seculo prosint!
"

Der wahre Uebersezzer soll also Wörter,
Redarten und Verbindungen seiner Mutter-
sprache aus einer ausgebildetern anpassen:
aus der Griechischen und Lateinischen vorzüg-
lich, und denn auch aus neuern Sprachen.
Nun wollen wir hierüber nach unsern vor-
ausgesezten Pramissen schwazzen:

Alle alte Sprachen haben, so wie die al-
ten Nationen, und ihre Werke überhaupt, mehr
karakteristisches, als das, was neuer ist.
Von ihnen muß also unsre Sprache mehr ler-
nen können, als von denen, mit welchen sie
mehr verwandt ist; oder der Unterschied zwi-
schen beiden liefert wenigstens den Sprach-
philosophen eine Menge Stoff zu Betrach-
tungen. Wir wollen vom leztern etwas ver-
suchen.

So wie uns unsre besten Heldenthaten, die
wir als Jünglinge thaten, aus dem Gedächt-
niß verschwinden: so entgehen uns aus dem
Jünglingsalter der Sprache jedesmal die be-
sten Dichter, weil sie vor der Schriftstellerei
vorausgehen. Jm Griechischen haben wir

aus
E

„an der Tugend, quae ſerit arbores, vt al-
„teri ſeculo proſint!

Der wahre Ueberſezzer ſoll alſo Woͤrter,
Redarten und Verbindungen ſeiner Mutter-
ſprache aus einer ausgebildetern anpaſſen:
aus der Griechiſchen und Lateiniſchen vorzuͤg-
lich, und denn auch aus neuern Sprachen.
Nun wollen wir hieruͤber nach unſern vor-
ausgeſezten Pramiſſen ſchwazzen:

Alle alte Sprachen haben, ſo wie die al-
ten Nationen, und ihre Werke uͤberhaupt, mehr
karakteriſtiſches, als das, was neuer iſt.
Von ihnen muß alſo unſre Sprache mehr ler-
nen koͤnnen, als von denen, mit welchen ſie
mehr verwandt iſt; oder der Unterſchied zwi-
ſchen beiden liefert wenigſtens den Sprach-
philoſophen eine Menge Stoff zu Betrach-
tungen. Wir wollen vom leztern etwas ver-
ſuchen.

So wie uns unſre beſten Heldenthaten, die
wir als Juͤnglinge thaten, aus dem Gedaͤcht-
niß verſchwinden: ſo entgehen uns aus dem
Juͤnglingsalter der Sprache jedesmal die be-
ſten Dichter, weil ſie vor der Schriftſtellerei
vorausgehen. Jm Griechiſchen haben wir

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[65/0069] „an der Tugend, quae ſerit arbores, vt al- „teri ſeculo proſint!„ Der wahre Ueberſezzer ſoll alſo Woͤrter, Redarten und Verbindungen ſeiner Mutter- ſprache aus einer ausgebildetern anpaſſen: aus der Griechiſchen und Lateiniſchen vorzuͤg- lich, und denn auch aus neuern Sprachen. Nun wollen wir hieruͤber nach unſern vor- ausgeſezten Pramiſſen ſchwazzen: Alle alte Sprachen haben, ſo wie die al- ten Nationen, und ihre Werke uͤberhaupt, mehr karakteriſtiſches, als das, was neuer iſt. Von ihnen muß alſo unſre Sprache mehr ler- nen koͤnnen, als von denen, mit welchen ſie mehr verwandt iſt; oder der Unterſchied zwi- ſchen beiden liefert wenigſtens den Sprach- philoſophen eine Menge Stoff zu Betrach- tungen. Wir wollen vom leztern etwas ver- ſuchen. So wie uns unſre beſten Heldenthaten, die wir als Juͤnglinge thaten, aus dem Gedaͤcht- niß verſchwinden: ſo entgehen uns aus dem Juͤnglingsalter der Sprache jedesmal die be- ſten Dichter, weil ſie vor der Schriftſtellerei vorausgehen. Jm Griechiſchen haben wir aus E

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/69>, abgerufen am 29.04.2024.