Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Tapferkeit über alles galt: so wenig litte die-
ses Zeitalter kalous k'agathous im feinen Ver-
stande des Shaftesbury. Auch das Wort
kalos hat diesen Ursprung gehabt: und wur-
de von den andrasin agathois gesagt, die
in der Schlacht eu und kalos (tapfer) strit-
ten: Aber mit der Zeit verfeinerte sich der
Geist der Sitten: das Wort arete hieß
Brauchbarkeit: das Wort agathos und ka-
los hieß ein tüchtiger Mann in Geschäften,
und selbst der Ehrenname aner verlor etwas
von seiner Mannheit. Weil in der damali-
gen Zeit die Weisheit auch noch allein eine
Dienerin des Staats war: so übernahmen
es sich also die Weisen, solche brauchbare Män-
ner zu bilden, die redliche Menschen und
tüchtige Bürger waren: so frägt Xeno-
phon
den Sokrates im Diogenes Laer-
tius:
sage mir, wie kann man ein kalos
k'agathos werden? und dieser führt ihn in
seinen Unterricht. So sagt Nicerat in der
angeführten Stelle: mein Vater, der mich
zum tüchtigen Mann (agathos) machen
wollte; ließ mich den Homer lernen. So
trugen es die Athenienser, die vorzüglich nach

dieser

Tapferkeit uͤber alles galt: ſo wenig litte die-
ſes Zeitalter καλους κ’αγαϑους im feinen Ver-
ſtande des Shaftesbury. Auch das Wort
καλος hat dieſen Urſprung gehabt: und wur-
de von den ανδρασιν αγαϑοις geſagt, die
in der Schlacht ευ und καλως (tapfer) ſtrit-
ten: Aber mit der Zeit verfeinerte ſich der
Geiſt der Sitten: das Wort αρετη hieß
Brauchbarkeit: das Wort αγαϑος und κα-
λος hieß ein tuͤchtiger Mann in Geſchaͤften,
und ſelbſt der Ehrenname ανηρ verlor etwas
von ſeiner Mannheit. Weil in der damali-
gen Zeit die Weisheit auch noch allein eine
Dienerin des Staats war: ſo uͤbernahmen
es ſich alſo die Weiſen, ſolche brauchbare Maͤn-
ner zu bilden, die redliche Menſchen und
tuͤchtige Buͤrger waren: ſo fraͤgt Xeno-
phon
den Sokrates im Diogenes Laer-
tius:
ſage mir, wie kann man ein καλος
κ’αγαϑος werden? und dieſer fuͤhrt ihn in
ſeinen Unterricht. So ſagt Nicerat in der
angefuͤhrten Stelle: mein Vater, der mich
zum tuͤchtigen Mann (αγαϑος) machen
wollte; ließ mich den Homer lernen. So
trugen es die Athenienſer, die vorzuͤglich nach

dieſer
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0123" n="291"/>
Tapferkeit u&#x0364;ber alles galt: &#x017F;o wenig litte die-<lb/>
&#x017F;es Zeitalter &#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; &#x03BA;&#x2019;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; im feinen Ver-<lb/>
&#x017F;tande des Shaftesbury. Auch das Wort<lb/>
&#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C2; hat die&#x017F;en Ur&#x017F;prung gehabt: und wur-<lb/>
de von den &#x03B1;&#x03BD;&#x03B4;&#x03C1;&#x03B1;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD; &#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C2; ge&#x017F;agt, die<lb/>
in der Schlacht &#x03B5;&#x03C5; und &#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03C9;&#x03C2; (<hi rendition="#fr">tapfer</hi>) &#x017F;trit-<lb/>
ten: Aber mit der Zeit verfeinerte &#x017F;ich der<lb/>
Gei&#x017F;t der Sitten: das Wort &#x03B1;&#x03C1;&#x03B5;&#x03C4;&#x03B7; hieß<lb/>
Brauchbarkeit: das Wort &#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03C2; und &#x03BA;&#x03B1;-<lb/>
&#x03BB;&#x03BF;&#x03C2; hieß ein tu&#x0364;chtiger Mann in Ge&#x017F;cha&#x0364;ften,<lb/>
und &#x017F;elb&#x017F;t der Ehrenname &#x03B1;&#x03BD;&#x03B7;&#x03C1; verlor etwas<lb/>
von &#x017F;einer Mannheit. Weil in der damali-<lb/>
gen Zeit die <hi rendition="#fr">Weisheit</hi> auch noch allein eine<lb/>
Dienerin des Staats war: &#x017F;o u&#x0364;bernahmen<lb/>
es &#x017F;ich al&#x017F;o die Wei&#x017F;en, &#x017F;olche brauchbare Ma&#x0364;n-<lb/>
ner zu bilden, die <hi rendition="#fr">redliche Men&#x017F;chen</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">tu&#x0364;chtige Bu&#x0364;rger</hi> waren: &#x017F;o fra&#x0364;gt <hi rendition="#fr">Xeno-<lb/>
phon</hi> den <hi rendition="#fr">Sokrates</hi> im <hi rendition="#fr">Diogenes Laer-<lb/>
tius:</hi> &#x017F;age mir, wie kann man ein &#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C2;<lb/>
&#x03BA;&#x2019;&#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03C2; werden? und die&#x017F;er fu&#x0364;hrt ihn in<lb/>
&#x017F;einen Unterricht. So &#x017F;agt <hi rendition="#fr">Nicerat</hi> in der<lb/>
angefu&#x0364;hrten Stelle: mein Vater, der mich<lb/>
zum <hi rendition="#fr">tu&#x0364;chtigen</hi> Mann (&#x03B1;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x03BF;&#x03C2;) machen<lb/>
wollte; ließ mich den Homer lernen. So<lb/>
trugen es die Athenien&#x017F;er, die vorzu&#x0364;glich nach<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">die&#x017F;er</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[291/0123] Tapferkeit uͤber alles galt: ſo wenig litte die- ſes Zeitalter καλους κ’αγαϑους im feinen Ver- ſtande des Shaftesbury. Auch das Wort καλος hat dieſen Urſprung gehabt: und wur- de von den ανδρασιν αγαϑοις geſagt, die in der Schlacht ευ und καλως (tapfer) ſtrit- ten: Aber mit der Zeit verfeinerte ſich der Geiſt der Sitten: das Wort αρετη hieß Brauchbarkeit: das Wort αγαϑος und κα- λος hieß ein tuͤchtiger Mann in Geſchaͤften, und ſelbſt der Ehrenname ανηρ verlor etwas von ſeiner Mannheit. Weil in der damali- gen Zeit die Weisheit auch noch allein eine Dienerin des Staats war: ſo uͤbernahmen es ſich alſo die Weiſen, ſolche brauchbare Maͤn- ner zu bilden, die redliche Menſchen und tuͤchtige Buͤrger waren: ſo fraͤgt Xeno- phon den Sokrates im Diogenes Laer- tius: ſage mir, wie kann man ein καλος κ’αγαϑος werden? und dieſer fuͤhrt ihn in ſeinen Unterricht. So ſagt Nicerat in der angefuͤhrten Stelle: mein Vater, der mich zum tuͤchtigen Mann (αγαϑος) machen wollte; ließ mich den Homer lernen. So trugen es die Athenienſer, die vorzuͤglich nach dieſer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/123
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/123>, abgerufen am 27.04.2024.